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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Wo liegt Transnistrien?
> Das Land steht zwischen dem Osten und dem Westen: De facto ist es
> unabhängig, die UN zählt es zur Republik Moldau. Es will aber zu
> Russland.
Bild: Moldawier und Transnistrier bei der Parlamentswahl 2009.
„Mit Russland in die Zukunft!“ Auf dem Omnibus, der in Tiraspol die Straße
des 25. Oktober entlangfährt, klebt ein riesiges Plakat. Der Text ist auf
Russisch, neben Moldauisch und Ukrainisch eine der drei Amtssprachen der
Moldauischen Republik Transnistrien. Auf dem Bild in Blau-Orange - es sind
die Logofarben der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) - blickt eine
Kleinfamilie erwartungsvoll in Richtung Kreml, dessen Silhouette als
schützende Festung dargestellt ist.
Als Russland die Krim im März 2014 annektiert hatte, begann sich der Westen
wieder verstärkt für die vielen „eingefrorenen Konflikte“ auf dem Gebiet
der ehemaligen Sowjetunion zu interessieren. Drei Monate später - die EU
hatte gerade die Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau, der Ukraine
und Georgien unterzeichnet - wurde darüber spekuliert, ob sich Russland nun
auch Abchasien, Südossetien und Transnistrien einverleiben würde.
Schon 2006 hatte der damalige Präsident von Transnistrien, Igor Smirnow, zu
einem Referendum über den „eventuellen Zusammenschluss mit Russland“
aufgerufen. Große Debatten fanden damals nicht statt. Am Ende stimmten 98
Prozent der Wähler dafür.
Die russische Geschichte Transnistriens beginnt mit dem Friedensvertrag von
Jassy, den Russland und das Osmanische Reich nach fünf Jahren Krieg 1792
unterzeichneten. Russland erhielt alles Land östlich des Dnjestr, der so
zum Grenzfluss wurde. Während der westliche Teil des damaligen Fürstentums
Moldau osmanisch blieb, wurde der östliche Teil 1812 dem russischen
Gouvernement Bessarabien zugeschlagen.
## De facto unabhängig
Von 1944 bis 1991 gehörte Transnistrien zur Moldawischen Sowjetrepublik. Im
Juni 1990, als sich die UdSSR aufzulösen begann, protestierte
Transnistriens slawophone Bevölkerung gegen ein neues Gesetz, das Rumänisch
zur alleinigen Amtssprache Moldawien erklärte. Im März 1992 versuchten
moldauische Truppen das Gebiet, in dem fast 60 Prozent der Bevölkerung
entweder Russen oder Ukrainer sind, unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie
wurden zurückgedrängt - mithilfe der ehemaligen 14. Gardearmee der UdSSR,
die ihr Hauptquartier in Tiraspol hatte. Am 21. Juli 1992 kam es zum
Waffenstillstandsabkommen, das zwar die Kriegshandlungen beendete, aber
nicht den eigentlichen Konflikt, der heute als „eingefroren“ bezeichnet
wird.
Transnistrien, ein schmaler Streifen Land von 3 500 Quadratkilometern, auf
dem 500 000 Einwohner leben, ist de facto unabhängig. Es hat eine eigene
Regierung, ein Parlament, eine Armee, eine Polizei, eine eigene Post. Es
gibt eine Verfassung, eine Nationalflagge, eine Hymne und ein Staatswappen.
Doch für die Vereinten Nationen gehört Transnistrien zur Republik Moldau.
Auf dem östlichen Ufer des Dnjestr begegnen einem heute immer wieder Männer
mit russischen Uniformabzeichen. Sie gehören neben Moldauern und
Transnistriern zu der 1992 gebildeten Friedenstruppe. Schätzungen zufolge
halten sich heute etwa 2 000 russische Soldaten in Transnistrien auf, von
denen zwischen 400 bis 500 zu dieser Friedenstruppe gehören. Der Rest ist
Teil der Operationellen Gruppe der russischen Streitkräfte in Moldau
(OGRF), die aus der ehemaligen 14. Gardearmee hervorging.
Ihre Anwesenheit wird von Moldau und den meisten westlichen Regierungen als
unrechtmäßig betrachtet. Moskau dagegen argumentiert, dass die Präsenz der
OGRF in Transnistrien notwendig sei, um die Waffenbestände aus der Zeit des
Kalten Kriegs zu schützen, die insbesondere im Dorf Kolbasna im Norden des
Landes lagern.
## Entscheidung gegen Moldau
Diese russische Militärpräsenz auf moldauischem Boden stellt laut
US-Senator John McCain, der „die Aufnahme Moldaus und Georgiens in die Nato
beschleunigen“ möchte, ein bedeutendes Hindernis dar. Es gibt zwar keine
offizielle Regel, die es verbieten würde, einen Staat, der in einen
eingefrorenen oder „offenen“ Konflikt verwickelt ist, in die Nato
aufzunehmen. Doch in der Praxis hätten weder die Ukraine noch Georgien oder
Moldau eine Chance. Zu groß wird die Gefahr eingeschätzt, dass die
Bündnispartner gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrags in einen Konflikt
hineingezogen werden könnten.
Am 18. März 2014, kurz nach der Annexion der Krim, wandte sich der Sprecher
des transnistrischen Parlaments, Michail Burla, mit einem Ersuchen an den
Vorsitzenden der russischen Duma, Sergei Naryschkin: Transnistrien wolle
der Russischen Föderation beitreten. Moskau unterstützt das Land großzügig
mit billigen Gaslieferungen, und wer einen russischen Pass besitzt, bekommt
auch etwas Rente aus Russland. 180 000 bis 200 000 Transnistrier, also etwa
35 Prozent der Bevölkerung, sollen einen russischen Pass haben. Dennoch
wurde Burlas Ansinnen zurückgewiesen.
Nadjeschda Gynj, eine 60 Jahre alte Rentnerin aus Tiraspol, besitzt
ebenfalls einen russischen Pass. Mit einem Besen aus zusammengebundenen
Reisigzweigen kehrt sie gerade den Hof. „Hier sind wir für Russland“, sagt
sie und macht eine kurze Pause. Auf die Frage, wie sie ihr Leben hier in
Transnistrien beschreiben würde, antwortet Nadjeschda: „Normal, wir führen
ein ganz normales Leben.“ Sie sagt, sie sei Russin, geboren wurde sie in
der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Dort wohnen auch heute noch viele ihrer
Angehörigen. Früher hat sie in einer Textilfabrik in Tiraspol gearbeitet.
Ihre Tochter ist weggezogen, nach Smolensk in Russland.
„Hier lebt man besser als in Moldau“, meint die Bäuerin Walentina Boiko,
die aus ihrem Dorf in die Stadt gekommen ist, um in den Wohnblocks Milch in
Flaschen zu verkaufen. Diesen Satz hört man hier oft. Tatsächlich sind die
kommunalen Dienstleistungen in moldauischen Städten viel teurer als in
Transnistrien. Die meisten glauben nicht, dass das geplante
Assoziierungsabkommen mit der EU daran viel ändern wird.
## Sheriff des Oligarchen
Im Westen Moldaus gehen 62 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass alles
sogar noch teurer wird. Das könnte unter anderem den großen Zuspruch für
die prorussischen Parteien erklären, die bei den letzten Parlamentswahlen
am 30. November 2014 39 Prozent der Stimmen bekamen und sich nur knapp dem
prowestlichen Block mit 44 Prozent geschlagen geben mussten.
Das transnistrische Wirtschaftsmodell ist ein Mix aus Sowjetsozialismus und
freier Marktwirtschaft. Ein von Russland alimentiertes Sozialwesen besteht
neben oligarchischen Strukturen, wie man sie aus vielen anderen ehemaligen
Sowjetrepubliken kennt. Ein Beispiel ist die Sheriff-Gruppe von Viktor
Gushan, der im Groß- und Einzelhandel quasi ein Monopol aufgebaut hat.
Gushan besitzt unter anderem Supermärkte und Tankstellen. Das Firmenlogo
ist in hier allgegenwärtig.
Transnistrien produziert hauptsächlich [1][Stahl, Zement, Textilien und
Elektrizität. 95 Prozent gehen in den Export]. Die wichtigsten
Handelspartner sind Moldau, Russland, Rumänien, die Ukraine und Italien,
doch es wird auch nach Deutschland, Österreich und Griechenland exportiert.
Aus eigener Kraft könnte sich das kleine Land kaum finanzieren. Ohne die
Einnahmen aus dem Weiterverkauf der russischen Gaslieferungen gegen
Aufschlag an die eigene Bevölkerung, die Rücküberweisungen von Emigranten
und die direkten Finanzhilfen aus Moskau wäre dieser Staat schon längst
zusammengebrochen. Seit der Sezession vor 23 Jahren wird er nun von Moskau
unterstützt. Zwischen 2008 und 2012 betrug die Hilfe, die hauptsächlich in
Pensionen und Armenspeisungen floss, etwa 27 Millionen US-Dollar (über 20
Millionen Euro) pro Jahr.
## Vetorecht für Russlandfreunde
Frau Gynj würde gern mehr Rente bekommen. Sie erhält umgerechnet rund 100
Euro monatlich. Doch die Miete kostet allein schon fast 80 Euro. Deshalb
bessert sie ihr Einkommen damit auf, an fünf Tagen in der Woche die Höfe
auszufegen. Ihr Mann stand damals im Sezessionskrieg gegen Moldau an der
Front. Der Krieg in der Ukraine hat schlimme Erinnerungen wachgerufen. „Ich
weiß nicht, was ich von der Auseinandersetzung mit dem Westen halten soll;
aber uns hilft Russland. Ich hoffe, es gibt bald Frieden in der Ukraine.“
Transnistriens Lage zwischen der Ukraine und der Republik Moldau macht das
Land gerade in der jetzigen Situation für die russische Regierung
interessant, die die Expansion von EU und Nato in die ehemaligen
Sowjetrepubliken unbedingt aufhalten will. „Es gibt keinen Zweifel, dass
die Bevölkerung Transnistriens prorussisch eingestellt ist“, sagt Artem
Filipenko, der in Odessa eine Außenstelle des Kiewer Instituts für
Strategische Studien leitet. Die politische Führung sei offensichtlich der
Ansicht, dass das EU-Assoziierungsabkommen mit Moldau nicht den Interessen
Transnistriens diene.
Kamil Calus vom Warschauer Zentrum für östliche Studien meint, dass
Russland in Transnistrien offensichtlich die gleiche Strategie verfolgt wie
in der Ostukraine, wo sich die sogenannten Volksrepubliken Donezk und
Lugansk am 7. beziehungsweise 27. April 2014 abgespalten haben. Bis jetzt
hat kein Staat diese Gebilde offiziell anerkannt. „Moskaus Plan für
Transnistrien ist nicht, seine Unabhängigkeit oder seinen Anschluss an die
Russische Föderation zu unterstützen“, meint Calus.
„Im Gegenteil: Russland möchte, dass Transnistrien Teil eines föderalen
Moldaus ist. Die Idee ist, das Gebiet zu nutzen, um einen ,Fuß in der Tür'
zu haben, um dann ganz Moldau zu kontrollieren und seine Hinwendung zum
Westen zu verhindern. Das Gleiche gilt für die neuen Republiken im Donbass.
Moskau möchte, dass sie Mitglieder einer föderalen Ukraine werden. Man will
sie dazu nutzen, die Integration der Ukraine in Organisationen wie der EU
und der Nato zu blockieren.“
## Fuß in der Tür
Eine Art Blaupause dieser russischen Strategie stellt das sogenannte
Kozak-Memorandum von 2003 dar, in dem Moskau Vorschläge für eine Lösung des
Konflikts unterbreitete. Nach diesem Plan sollte Transnistrien ein
Vetorecht über alle wichtigen Entscheidungen in Chisinau übertragen werden.
Dies sollte durch einen Umbau des moldauischen Senats ermöglicht werden, in
dem Transnistrien und die ebenfalls sezessionsbereite Region Gagausien
[2][im Süden des Landes zusammen 13 von 26 Sitzen bekommen sollten].
Zudem sollte die Stationierung der russischen Truppen in dem neuen
Föderalstaat bis 2020 legalisiert werden. Wäre dieses Memorandum umgesetzt
worden, hätte Moldau keine Chance mehr gehabt, jemals in die europäischen
oder atlantischen Organisationen aufgenommen zu werden, meint Calus.
Dass Moskau diese Strategie auch auf die Ukraine anwenden könnte, zeigte
sich am 30. März 2014, als der russische Außenminister Sergei Lawrow
verlangte, dass „die USA und ihre europäischen Partner den Vorschlag
akzeptieren, den russischsprachigen Regionen im Osten und Süden der Ukraine
weitgehende Autonomierechte gegenüber Kiew zu bewilligen“. Laut einem
Bericht des finnischen Instituts für internationale Angelegenheiten vom
Dezember 2014 wollte die Kiewer Regierung jedoch nur einer
„Dezentralisierung“ zustimmen, das heißt die lokalen Behörden hätten mehr
Kompetenzen bekommen, aber die verfassungsrechtliche Struktur der Ukraine
sollte unangetastet bleiben.
Transnistrien und die vom Krieg verwüstete Donbass-Region sind darüber
hinaus kaum vergleichbar. Im Donbass leben zehnmal mehr Menschen, es gibt
eine gemeinsame Grenze mit Russland und - zumindest offiziell - keine
russischen Soldaten. Im Gegensatz zu Transnistrien verlaufen durch die
Separatistengebiete auch keine für die Ukraine wichtigen Pipelines. Damit
fehlt den Kämpfern ein wichtiger Trumpf für Verhandlungen. Außerdem
bräuchte der Donbass viel mehr Militär- und Finanzhilfe aus Russland als
das kleine Transnistrien. Zu guter Letzt dürfte es für Russland sehr viel
schwieriger werden, den Fall Donbass als „eingefrorenen Konflikt“ zu
handhaben.
Am Beispiel Transnistrien wird noch etwas erkennbar: Wenn der Westen die
strategischen Interessen Russlands ernst nimmt, kann er mit den unsicheren
Verhältnissen in den ehemaligen Sowjetrepubliken auch ganz gut leben.
5 Apr 2015
## LINKS
[1] http://www.osw.waw.pl/en/publikacje/osw-commentary/2013-05-16/aided-economy…
[2] http://www.stefanwolff.com/files/Kozak-Memorandum.pdf
## AUTOREN
Jens Malling
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