| # taz.de -- Griechischer Premier in Moskau: Große Geschichte, große Träume | |
| > Die Regierungen Russlands und Griechenlands treffen sich. Beide Länder | |
| > verbindet eine wechselvolle Geschichte, beide pflegen Ressentiments gegen | |
| > Europa. | |
| Bild: Vieles verbindet Russen und Griechen, aber die Orthodoxie spielt keine gr… | |
| MOSKAU taz | In der Bolschaja Grusinskaja, der Großen Georgischen Straße in | |
| Moskau, erinnert ein Denkmal an die freundschaftlichen Beziehungen | |
| Russlands und Georgiens. Ein riesiger „Baum der Sprache“ symbolisiert die | |
| Buchstaben des georgischen und kyrillischen Alphabets. Noch zu Sowjetzeiten | |
| wurde es 1983 errichtet. Anlass war ein Jubiläum: 200 Jahre zuvor hatte der | |
| georgische König den Zaren um christlichen Beistand gegen Überfälle aus der | |
| muslimischen Nachbarschaft gebeten. Das Zarenreich legte das Anliegen etwas | |
| anders aus – als freiwilligen Anschluss. | |
| Noch heute ringt das seit 1991 unabhängige Georgien um die Wahrung seiner | |
| Souveränität gegenüber Russland. Und direkt gegenüber dem Sprachenbaum hat | |
| sich ein griechisches Restaurant niedergelassen, das „Melon lave“. | |
| Dimitrios Liatsos, ein seit über dreißig Jahren in Russland lebender | |
| Grieche, kommt gern her – auch wenn auf der Speisekarte kaum traditionelle | |
| Gerichte wie Gyros und Souvlaki zu finden sind. „Echte Griechen gibt es in | |
| Moskau nicht viele“, meint der promovierte Philosoph. Tatsächlich machen | |
| sich Landsleute aus dem heutigen Hellas in Russland rar. Ein lockerer | |
| Zusammenschluss der Auslandsgriechen in Moskau zählt gerade mal 150 | |
| Mitglieder, berichtet Liatsos. | |
| Als Student kam er Ende der 1970er Jahre in die Sowjetunion und schlug dort | |
| Wurzeln. Jahrzehnte berichtete er aus Russland als Korrespondent des | |
| staatlichen griechischen TV-Senders ERT, bis dieser im Juni 2013 | |
| geschlossen wurde. Seither ist Dimitrios notgedrungen als Multitasker | |
| unterwegs – wie viele seiner durch die Krise gebeutelten Kollegen im | |
| Mutterland. | |
| In der Auseinandersetzung zwischen Europa und Russland um die Ukraine | |
| schlägt sein Herz für Moskau. Auch eine Annäherung Athens an Russland hält | |
| er selbstverständlich für keine Katastrophe. Ein engeres Bündnis könnte er | |
| sich sogar gut vorstellen, ist aus der vorsichtigen Erzählung | |
| herauszuhören. | |
| ## „Hol sie dir!“ | |
| Dimitrios Liatsos steht für eine Generation, deren Jugend von der rechten | |
| Militärdiktatur in Athen geprägt wurde. Nach dem Sturz des Obristenregimes | |
| 1974 kamen sie als Stipendiaten der KPdSU oder des kommunistischen | |
| Jugendverbands Komsomol in die Sowjetunion. Als antiwestliche Alternative | |
| befand sich die griechische Linke in dieser Zeit im Aufwind. | |
| Dimitrios Liatsos preist das „Melon lave“ als das beste griechische | |
| Restaurant der Stadt, auch wenn er es gern deftiger hat. Schon der Name des | |
| Gasthauses greift nach Höherem – und weit zurück: An den Thermopylen hatte | |
| Leonidas, der Heerführer Spartas, den vorrückenden Persern 480 v. Chr. in | |
| aussichtsloser Lage dieses „Melon lave!“ – entgegengerufen: „Komm und h… | |
| sie dir!“ auf Deutsch. | |
| Damit meinte er die Waffen, die er strecken sollte. Dies war nicht nur die | |
| Geburtsstunde einer der europäischen Opfermythen und der Heldenverehrung, | |
| es war auch die erste Beurkundung des Stilmittels der Lakonie: Kurz, | |
| treffend und nüchtern, kein Wort zu viel. | |
| Vor 2.500 Jahren war es Griechenland, das Europa gegen Angriffe aus dem | |
| Osten verteidigte. Am Mittwoch fährt ein griechischer Bittsteller nach | |
| Russland, der im Kreml einen Retter sieht. | |
| Anders als seine Ahnen geht Alexis Tsipras nicht sparsam mit Worten um. | |
| Schon im Vorfeld seiner Reise beschwor der linke Regierungschef eine | |
| „wunderbare Zukunft“ für Griechen und Russen. Exkorrespondent Dimitri | |
| Liatsos wundert sich nicht: „Wenn die Griechen über die Stränge geschlagen | |
| haben, entsinnen sie sich schnell Mütterchen Russlands.“ | |
| Die Erinnerung an die Wohltaten Russlands reichen bis zum griechischen | |
| Freiheitskampf am Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Damals waren es | |
| griechische Untertanen des Zaren, die zu Zehntausenden auf der Krim und in | |
| Mariupol lebten, die die Geheimgesellschaft Filiki Etairia in Odessa | |
| gründeten und das Aufbegehren gegen das Osmanische Reich unterstützten. | |
| Katharina die Große hatte zuvor die Hellenen unter glänzenden | |
| Versprechungen zum Aufstand gegen die Hohe Pforte, das Machtzentrum des | |
| Osmanischen Reiches, ermuntert. „Obgleich in solchen Beginnen von | |
| russischer Seite etliche Mal verlassen, war doch die edelsinnige | |
| Selbsttäuschung nie ganz von ihnen (den Griechen; d. Red) gewichen“, heißt | |
| es in der „Pragmatischen Geschichte der nationalen und politischen | |
| Wiedergeburt“ von Johann Ludwig Klüber aus dem Jahre 1835. | |
| ## An der Wiege gestanden | |
| Jedes griechische Schulkind weiß, dass an der Wiege des neuen Griechenlands | |
| auch Russland stand. Dessen griechischstämmiger Exaußenminister wurde 1828 | |
| erster Gouverneur des jungen Staats. Über hundert Jahre später, im | |
| griechischen Bürgerkrieg von 1946 bis 1949, flohen Tausende griechischer | |
| Kommunisten in die Sowjetunion. | |
| Die letzte Welle der Immigration folgte mit den Stipendiaten in den 70er | |
| Jahren. So blieb Russland als Gegenpol zum Westen an der Ägäis immer | |
| präsent. Dies war nicht zuletzt der Grund dafür, dass Athen so schnell in | |
| die EU aufgenommen wurde. | |
| Gewiss birgt auch der gemeinsame orthodoxe Glaube ein verbindendes Element. | |
| Allerdings ist diese Geschichte alles andere als einfach, denn die beiden | |
| orthodoxen Kirchen stehen auch in Konkurrenz zueinander. | |
| Zudem halten die Russen die Griechen seit dem Fall Konstantinopels 1453 für | |
| unsichere Kantonisten. Damals waren die Byzantiner in der Hoffnung auf | |
| militärische Hilfe einen vorübergehenden Bund mit Rom eingegangen – eine | |
| Todsünde für die Hüter der wahren Lehre in Moskau. Die Griechen zapften den | |
| Zaren dennoch als Mäzen der orthodoxen Kirchen im Osmanischen Reich an, | |
| beklagten sich allerdings zugleich naserümpfend über die Ungebildet- und | |
| Rohheit des russischen Volkes. Dessen barbarische Frömmigkeit bedürfe | |
| griechischen Raffinements: „Man läutet in Moskau viel die Glocken, aber | |
| sonst gibt es dort nichts“, so ein griechischer Bischof im 17. Jahrhundert. | |
| Feindselig wurde es zwischen beiden Ländern, als das Zarenreich Ende des | |
| 19. Jahrhunderts im Zuge des Panslawismus die slawischen Völker auf dem | |
| Balkan unterstützte. Die gemeinsame Konfession war vergessen, weil die | |
| Griechen sich behindert fühlten, die megali idea (große Idee) umzusetzen: | |
| die Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches. Was der „großen Idee“ aber | |
| fehlte, war das Denken, das einem großen Entwurf vorausgeht und das sie | |
| wahrhaftig macht. So blieb es bei einem Traum, der auf Größe abzielte. | |
| ## Atheist und Spätbekehrter | |
| Die Konfession dürfte bei einer Zusammenarbeit zwischen Moskau und Athen | |
| kaum eine Rolle spielen. Schon gar nicht, wenn dieses Bündnis vom Atheisten | |
| Alexis Tsipras und dem spätbekehrten Wladimir Putin geschmiedet wird. Dass | |
| der Glaube in den Reden der Politiker überhaupt erwähnt wird, weist eher | |
| auf den hemmungslosen Umgang mit Widersprüchen hin, die als solche nicht | |
| (an)erkannt werden. Das ließe sich auf russischer Seite als Ergebnis eines | |
| exzentrischen Subjektivismus deuten, der die Wirklichkeit nur als eigene | |
| Innenwelt wahrnimmt und sich scheut, die Außenwelt auf den Begriff zu | |
| bringen. | |
| Der 2010 verstorbene griechische Philosoph Kostas Axelos erkannte eine | |
| ähnliche Tendenz in seiner Heimat: Richteten die alten Griechen das | |
| ursprüngliche Denken noch auf die Gesamtheit all dessen, was ist, neige das | |
| junge Griechenland dazu, das Denken zu ignorieren, sagte er. Es lebe in | |
| „Quasirealitäten“. | |
| So scheint beiden Ländern heute eine handlungsfähige Gesellschaft zu | |
| fehlen, die den Zustand der Atomisierung überwunden hätte. Das | |
| allgegenwärtige Misstrauen in den Gesellschaften beschränkt die Reichweite | |
| des Handelns auf das unmittelbare familiäre Umfeld. | |
| Die Phänomene gleichen sich, auch wenn sich die Ursachen unterscheiden. | |
| Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich beide angezogen fühlen. Auf | |
| jeden Fall trägt das Desinteresse des europäischen Zentrums dazu bei: | |
| Russland wurde in seiner Modernisierungskapazität überschätzt und sich | |
| selbst überlassen, Griechenland als Randexistenz für zu leicht befunden. | |
| Jetzt aalen sich beide in Ressentiments. Großer Einfluss und geringes | |
| Interesse sind eine explosive Mischung. | |
| Bevor Griechenland sich für Russland entscheidet, sollte Alexis Tsipras bei | |
| den Georgiern nochmals nachfragen, wie sich das Leben an russischer Leine | |
| anfühlt. Auch wäre es sinnvoll, bei den Kollegen auf Zypern anzuklopfen und | |
| sich nach den russischen Kreditbedingungen zu erkundigen. Sie sind härter | |
| als die der westlichen Finanzinstitutionen. Der Philosoph Kostas Axelos | |
| würde dem Moskaureisenden den Rat geben: „Wir sollten links sein und | |
| dennoch denken.“ | |
| 8 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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