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# taz.de -- Todestag von Heinrich Böll: Es droht der Verlust dieser Welt
> Vor 39 Jahren ist der Schriftsteller Heinrich Böll gestorben. Welche
> aktuellen Zeitbezüge finden sich in seinem literarischen Werk?
Bild: Heinrich Böll mit Zigarette im März 1982
Es gehe ihm in seiner Arbeit um die „Suche nach einer bewohnbaren Sprache
in einem bewohnbaren Land“, sagte Heinrich Böll. Die Universität Frankfurt
hatte den Schriftsteller im Wintersemester 1963/64 dazu eingeladen, seine
„Ästhetik des Humanen in der Literatur“ in ihren alljährlichen
Poetikvorlesungen zu entwerfen.
Damals waren Naziherrschaft, Holocaust und Zweiter Weltkrieg schon eine
Weile her und aus den Trümmerlandschaften die funktional-hässlichen Städte
des westdeutschen Wirtschaftswunders gewachsen. Die Zerstörungen aus zwölf
Jahren nationalsozialistischer Herrschaft reichten indes bis tief in die
Gesellschaft und die Kultur des Landes hinein, und sie wirkten lange über
1945 hinaus. Das Politische, das Öffentliche und das Private, von 1933 bis
1945 war alles in den Dienst des Hakenkreuzes gestellt worden, die Wörter
waren kontaminiert, nach Auschwitz konnten mit den Worten Theodor W.
Adornos bekanntlich keine Gedichte mehr geschrieben werden.
Böll hatte sich demgegenüber bewusst „entschlossen, zu überleben, zu lesen,
zu schreiben, zu essen, zu lieben“, wie er es als direkte Antwort auf
Adorno in Frankfurt formulierte. Er trat dort auf „als einer, der seinen
Aufenthalt verlängert hat“ – mit dem Ziel, Sprache und Land wieder
bewohnbar zu machen.
## Literaturnobelpreisträger 1972
Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger von 1972, wird heute meist mit
seinen Erzählungen in Verbindung gebracht, die sich um das Leben der
sogenannten einfachen Leute in der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre und
um die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg drehen. Seit seinem Tod am 16. Juli
1985 und erst recht nach 1989 ist er etwas in Vergessenheit geraten.
Zu Unrecht, denn seine Themen als Schriftsteller und seine Interventionen
als Intellektueller weisen über ihre Zeit hinaus. Von großer Aktualität
erscheint die Frage nach der Bewohnbarkeit. Die des Landes, aus dem im
Angesicht der Klimakatastrophe gleich der ganze Planet geworden ist. Und
die der Sprache, der Gesellschaft, der ganzen öffentlichen Sphäre, die
immer aggressiver und verhärteter erscheint.
Dem Schriftsteller der Nachkriegszeit ging es freilich um Literatur und
Politik, um die Gesellschaft nach der Barbarei und Entmenschlichung unter
der Herrschaft der Nazis. Von einer planetaren ökologischen Krise oder
einer mit Trump, Nazi-Trollen, Telegram und Tiktok konfrontierten
Öffentlichkeit wusste er noch nichts.
## Bewohnbare Sprache
Die Formel von der bewohnbaren Sprache im bewohnbaren Land bringt dennoch
präzise auf den Punkt, was heute wieder auf dem Spiel steht. Ihr Horizont
markiert nichts weniger als den Verlust der Welt als Lebensgrundlage der
menschlichen Zivilisation und den (neuerlichen) Verlust einer offenen
Gesellschaftsordnung, die auf einem liberalen Konsens, auf demokratischer
Kontrolle von Macht und auf Ausgleich kapitalistischer Unwuchten aufbaut.
Die Bewohnbarkeit von Land und Sprache ist jeweils das Gegenteil dieses
Verlusts. Sie zeichnet sich aus durch die Möglichkeit, vertrauen zu können,
durch „Nachbarschaft, Einander-Helfen, Verbundenheit“. Sie ist angewiesen
auf „öffentliche Verbündete“, auf Verantwortung füreinander und
„Gebundenheit“ in der Welt. Ihr ärgster Feind ist der alte deutsche
Gehorsam und der Nihilismus der reinen Befehlsempfänger, eine „befohlene
Demokratie“ könne es nicht geben, so Böll.
Seine Ausführungen zur „Ästhetik des Humanen“ skizzieren ein, wie man mit
einem aktuellen Begriff sagen könnte, intersektionales Verständnis von
Bewohnbarkeit als existenzieller Voraussetzung eines Lebens, das mehr ist
als nacktes Überleben, in einer humanen Gesellschaft, die Raum zur
menschlichen Entfaltung gewährt.
Bölls Begriff der Bewohnbarkeit verbindet die planetar-ökologischen
Herausforderungen mit den politisch-gesellschaftlich-kulturellen Fragen der
Gegenwart. Wir befinden uns mitten einer eskalierenden Klimakrise, die zur
Klimakatastrophe zu werden droht, einer öffentlichen Sphäre, in der
demokratische Politik und Debatte von Populisten und Faschisten
pulverisiert werden und einer Gesellschaft, die mit sich selbst und den
Konsequenzen ihres Handelns überfordert zu sein scheint.
## Richtschnur der Menschheit
So könnte die Frage nach der Bewohnbarkeit zur Richtschnur für den Umgang
der Menschheit mit dem Planeten und mit sich selbst werden. Dass der
Begriff nie wirklich definiert wird, sondern offen bleibt, verdeutlicht
seinen fluiden Charakter, der keinen Anfang und kein Ende kennt. Er
eröffnet vor allem Denkräume, die sich als Ausgangspunkt theoretischer
Überlegungen zur politischen Ökologie und zur Stellung des Menschen in der
Welt der Klimakrise anbieten.
In diesen Überlegungen könnte es um das politische Subjekt gehen, das die
bewohnbar gemachten und gehaltenen Räume sich dann aktiv aneignet und
mithin bewohnt, und das vielleicht in Anlehnung an den französischen
Philosophen Claude Lefort als „Leerstelle“ gedacht werden würde. Es ginge
um Hannah Arendts Begriff des Handelns und der „Sorge um die Welt“ als
Ausgangspunkt aller Politik, mit deren Hilfe Bewohnbarkeit als ein
Verhältnis der aktiven Sorge um die soziale und ökologische Umwelt
skizziert werden könnte.
Es könnte um die Freiheit gehen, an einem Ort zu bleiben und Bindungen
aufbauen zu dürfen, die in die Zukunft weisen, wie es die Philosophin Eva
von Redecker beschrieben hat. Vielleicht würde auch Hartmut Rosas Thema der
„Resonanz“ und die Frage nach dem Umgang mit dem so verbreiteten wie
diffusen Gefühl der Entfremdung des Menschen von der Welt und von sich
selbst aufgegriffen, das sich durch die gesamte Moderne zieht.
## Etwas Existenzialismus
Etwas Existenzialismus würde auch Platz finden, etwa mit Albert Camus, der
vom Schweigen der Welt sprach, aber auch festhielt, „wenn der Mensch
erkennen würde, dass auch das Universum lieben und leiden kann, dann wäre
er versöhnt“. Und nicht zuletzt käme noch mal Böll selbst zur Sprache, der
mit seiner Verteidigung des „Provinzialismus“ in gewisser Weise heutige
Debatten um Dezentrierung und Dekolonisierung des Subjekts und der Welt
vorwegnahm, in denen das „Provinz-Werden“ ein häufiges Motiv ist.
Heinrich Böll war kein politischer Theoretiker, wollte es niemals sein und
sollte auch nicht so gelesen werden. Seine Einmischung als politischer
Intellektueller war immer konkret, seine „Ästhetik des Humanen“ blieb wie
seine „Bewohnbarkeit“ auf die Literatur und auf seine Zeit gerichtet.
Deren Fragestellungen und Herausforderungen waren noch die der
Industriemoderne, sie bezogen sich auf den Nationalstaat und auf eine
Gesellschaft, die im Vergleich zur heutigen in übersichtliche Gruppen mit
klaren, oft antagonistischen Positionen und Zuschreibungen strukturiert
war. Die Pole der Öffentlichkeit hießen Bild, Spiegel und vielleicht
konkret, die taz gab es noch lange nicht, erst recht keine sozialen Medien.
## Faschistische Gespenster
Für Böll und andere Intellektuelle seiner Zeit ging es vor allem darum, die
faschistischen Gespenster der Vergangenheit zu überwinden, die sich als
recht beharrlich erwiesen. Heute ist es andersrum. Dystopische kurz- und
mittelfristige Perspektiven und apokalyptische Zukunftsszenarien lähmen die
politische Imagination und verstärken den Sog regressiver, illiberaler und
letztlich faschistischer Kräfte, die sich überdies als rebellisch und
nonkonformistisch tarnen.
Die Gefahren scheinen heute nicht aus der Vergangenheit zu kommen, sondern
aus der Zukunft. Sie werden eine vielfache Neuformulierung
gesellschaftlicher und moralischer Fundamente erzwingen.Die bewohnbare
Sprache und das bewohnbare Land müssen nicht nur verteidigt, sie müssen neu
gedacht und unter neuen Bedingungen geschaffen werden.
15 Jul 2024
## AUTOREN
Lukas Franke
## TAGS
Heinrich Böll
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