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# taz.de -- Buch von Elfriede Jelinek: Pathos und Trivialität riskieren
> Aufmerksamkeit für Elfriede Jelinek: Der Film „Die Sprache von der Leine
> lassen“ bringt uns die Autorin wieder nahe. Ihr neues Buch fordert
> heraus.
Bild: Der Text als Installation und Intervention: Elfriede Jelinek 1998 in Wien
Diese Begeisterung lässt sich teilen. Seit ein paar Tagen läuft der
Dokumentarfilm „Die Sprache von der Leine lassen“ in den Kinos, und über
die sozialen Medien erreichen einen dankbare Tweets, dass es diesen Film
gibt, gleich nach dem Abspann noch aus dem Kino gesendet. In diesen Chor
möchte man unbedingt gleich einstimmen. Tatsächlich nämlich bringt einem
dieser Film nicht nur Elfriede Jelinek (wieder) nahe. Er ist auch ein
schönes Beispiel dafür, wie ein fruchtbarer Umgang mit einer nicht eben
einfachen Literatur gelingen kann.
Wie hat die Filmemacherin Claudia Müller, dramaturgisch unterstützt von
Brigitte Landes, das gemacht? Der eine Punkt ist: Mit Archivmaterial
umreißt sie souverän das Leben Elfriede Jelineks, soweit die Autorin es
selbst in ihrer Literatur thematisiert. Da ist diese herausfordernde
Herkunft.
Die Mutter ehrgeizig, katholisch, kalt – „steinhart“, sagt Elfriede Jelin…
im Film –, die ihre Tochter in 16-Stunden-Tagen zu einem musikalischen
Genie drillen will. Der Vater dagegen öffentlich tätig, jüdisch, sich
später der Tochter in die psychische Erkrankung entziehend. Sie habe sich
„in die Sprache gerettet, weil das die einzige Kunstform war, die meine
Mutter nicht gefördert hat“, sagt Elfriede Jelinek.
Genauso kühl und analytisch durchdacht wie über diese Elternkonstellation
hat sie in Interviews lange Zeit über ihre literarische Karriere Auskunft
gegeben. Zentrale Wegmarken schneidet die Dokumentation überzeugend
zusammen.
## Glamour und Ikone
„wir sind lockvögel baby!“, ihr „Poproman“, wie Elfriede Jelinek sagt.…
wahnsinnige Hype um den Roman „Lust“, diesen Versuch, einen weiblichen
Porno zu schreiben, oder eher: die sprachliche Analyse der Unmöglichkeit,
einen weiblichen Porno zu schreiben, weil die Sprache des sexuellen
Begehrens männlich dominiert sei. Der Nobelpreis 2004, den Elfriede Jelinek
nicht persönlich entgegennehmen kann, aufgrund einer „generalisierten
Angststörung“, so ihre Selbstdiagnose.
Klar wird bei alledem, wie viel Glamour diese Autorin ausgestrahlt hat, was
für eine Ikone sie war, teils zu ihrer eigenen Verwunderung und auch
Überforderung. Vor allem aber macht der Film zugleich auch immer deutlich,
was Texte für diese Autorin bedeuten.
Denn da gibt es eben noch den anderen Punkt: Über den biografischen Ansatz
geht der Film weit hinaus. Auf der Tonspur lässt er die Texte selbst
sprechen, in den Stimmen solcher Vorlesekönner*innen wie Sandra
Hüller, Sophie Rois, Ilse Ritter, Martin Wuttke, Maren Kroymann, Stefanie
Reinsperger. Wie collagiert diese Texte sind, wird dabei deutlich, eben
nicht zur Identifikation auffordernd, sondern wie Sprachinstallationen
zusammengesetzt aus Sprüchen, Assoziationen und unterschiedlichen
Stimmlagen.
## Feministische Perspektive
Zugleich sind diese Texte gezielt eingesetzte politische Intervention. Die
Sprachexperimente der Wiener Schule hat Elfriede Jelinek zunächst aus
feministischer Perspektive verschärft und dann auch aus
geschichtspolitischer Perspektive, gegen die [1][Verdrängung der
Nazivergangenheit] in Österreich. Das alles wird ohne Off-Kommentar, allein
durch die Konfrontation des Archivmaterials mit den Texten in Szene
gesetzt.
Nur gegen Ende bleibt der Film etwas lange an diesem unsäglichen
Nestbeschmutzer-Vorwurf gegen Elfriede Jelinek hängen. Aber vielleicht hat
Österreich bis heute nichts anderes verdient, als deutlich auf [2][seine
reaktionären Seiten] hingewiesen zu werden.
Ein Höhepunkt dagegen sind Szenen aus der Burgtheater-Inszenierung von
Jelineks „Ein Sportstück“, in dem der [3][Regisseur Einar Schleef] 1998 auf
das Pathos dieser Texte noch viel theatrales Pathos gepackt hat. In einer
Interviewszene sieht man Elfriede Jelinek ihre Trauer über den Tod Einar
Schleefs an. Zugleich sagt sie: „Wenn man das Pathos riskiert, muss man
auch die Trivialität riskieren.“
## Beflügelt vom Film
Texte als Installationen und Interventionen, immer scharf Pathos und
Trivialität konfrontierend – vielleicht macht dieser Film trotz mancher
düsteren Momente so froh, weil er diese Texte so einleuchtend zum Schillern
bringt.
Wer nun aber, beflügelt vom Film, zum neuen Buch von Elfriede Jelinek
greift, „Angabe der Person“ heißt es, wird erst einmal wieder ziemlich
ausgebremst. Das Buch ist eben keineswegs die „Lebensbilanz“, als die der
Rowohlt-Verlag es verkaufen will.
Vielmehr passt der Titel des Dokumentarfilms im Grunde ganz wunderbar auch
auf diesen neuen Text: Ausgehend von einem Verfahren der
Steuerhinterziehung gegen sie (das später fallengelassen wurde), geht sie
wild assoziierend durch diverse Nachrichtenlagen der vergangenen Jahre und
lässt dabei die Sprache aber so was von der Leine. Andere große Steuerfälle
kommen vor, Boris Becker, Cum-Ex, von da aus mäandern die Themen, Corona,
auch Flüchtlinge übers Mittelmeer, auch Nazienkel und manches mehr.
## Boris Beckers Klospülung
Und zwischen vielen, vielen Kalauern – „Das Klopapier geht ebenfalls aus.
Leider nicht mit mir“ – blitzen Auskünfte über ihre getöteten jüdischen
Vorfahren auf, ihre in Auschwitz umgebrachte Tante etwa und ihren
„Ur-Oheim“ Herschel Jellinek (tatsächlich noch mit Doppel-l). So
losgelassen diese Sprache auch ist, es geht dabei eben immer auch um ganz
konkrete Fälle und Punkte.
Hier wird die aktive Leser*in gefordert. Tatsächlich muss man es bei
diesem Buch genauso machen, wie es der Dokumentarfilm insgesamt vorgemacht
hat. Man muss den Text kontextualisieren, das heißt konkret nebenbei
ständig im Internet die Suchmaschinen anschmeißen, was dann immer wieder
großen Spaß bringen kann. Ich habe mich zum Beispiel dabei ertappt, wie ich
„Boris Becker und Klospülung“ googelte, weil das in seinem Steuerverfahren
eine Rolle spielte.
Die Spannung zwischen dem Trivialen und den realen Toten wirkt dann
zwischendrin manchmal wie ein Schock. Und man muss diese Sprache zum
Klingen bringen, zwischendurch immer mal wieder laut lesen, um der
geforderten Stimmlage und der Musikalität dieser Sätze auf die Spur zu
kommen.
Der Theaterregisseur Jossi Wieler wird das auch tun, Mitte Dezember wird
der Text am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt, aufgeteilt auf vier
Schauspieler*innen. Aber man kann, zu Hause lesend, an dem Text eben auch
seine inneren Stimmen trainieren.
21 Nov 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
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