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# taz.de -- Andrea Breth am Berliner Ensemble: Nebenan lauert Entsetzliches
> Das Ausweglose hat die Regisseurin eingeholt: Es ist eine Collage aus
> Fragmenten, die Andrea Breth am Berliner Ensemble inszeniert hat.
Bild: „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth im Berliner Ensemble
Der Schriftsteller Frank Witzel erfand in einem gleichnamigen Gesprächsband
den [1][Begriff „BRD Noir“]. Zusammen mit dem Historiker Philipp Felsch
stieg er tief hinab in die Nachkriegszeit, als die Nierentische stets
glattpoliert waren und der Rasen akkurat gestutzt, als Aktenzeichen XY ein
ganzes Volk vor dem Fernseher versammelte, während es seine eigenen
Verbrechen eifrig verdrängte. BRD Noir ist seither eine Chiffre für die
Unheimlichkeit des goldenen Westens, hinter dessen Glanz, sieht man nur
genau genug hin, das Grauen aufblitzt.
Von diesem Grauen ist es nicht weit zum Grau, und damit zur bestimmenden
Farbe von [2][Andrea Breths] äußerst assoziativer Inszenierung „Ich hab die
Nacht geträumet“ am Berliner Ensemble. Corinna Kirchhoff, Peter Luppa,
Martin Rentzsch, Alexander Simon und Johanna Wokalek stolzieren da in
Anzügen, Röcken und Kleidern umher, deren Muster man aus Loriots Klassiker
„Ödipussi“ kennt: aschgrau, mausgrau, bleigrau. So eintönig die visuelle
Gestaltung, so divers ist das Material, das Breth in ihrem Stück
unverbunden aneinanderreiht.
Meist monologisch sprechen sie hier Textsplitter von Herta Müller, Paul
Celan, Dieter Hildebrandt, Theodor W. Adorno, Joseph von Eichendorff und
vielen anderen. Das Ensemble und ein Chor singen Schubert und Lehár, vor
allem aber jede Menge Schlager. Hinzu kommen Filme, Ulrich Seidl und David
Lynch sind explizite Bezugspunkte.
Nicht in der akribisch geführten Quellenliste im Programmheft aufgeführt,
doch wie im Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt erkennbar, gesellt sich auch
Franz Kafka in diese illustre Runde: ein leerer Korridor, der sich nach
hinten verengt, weitere Türen rechts und links, womöglich ein Bürogebäude,
in jedem Falle ein gruseliger Ort, der ständig droht die Figuren
einzuschließen, wenn eine Trennwand eingeschoben wird.
## Starr und seelenklamm
Immer wieder gleiten die Spieler auf Holzplatten und Kisten wie von
Geisterhand aus einer Tür zur gegenüberliegenden, parlieren dabei betont
aufgeräumt ihre Texte, wirken dabei jedoch starr und seelenklamm, als
könnten sie eine existenzielle Angst nicht abschütteln. Nebenan lauert
offenbar Entsetzliches. Martin Rentzsch reißt mit Blick in den angrenzenden
Raum einmal erschrocken die Augen auf. Mitunter zerrt Breth das Unheimliche
auch ganz offen ins Licht, wenn eine Leiche aus der Tür in den Flur fällt
oder, was mehrmals vorkommt, oder eine Figur ohne Vorwarnung und erkennbare
Motivation erschossen wird.
In einem Interview mit der Zeit bekannte die Regisseurin kurz vor der
Premiere, von Krieg und Krisen überrollt worden zu sein: „Ich bin ratlos
und sprachlos. Ich kann nur noch Fragmente erzählen. Ich sehe mich nicht in
der Lage, ein stringentes Drama zu inszenieren, was ich eigentlich gern
tue.“
Ihre Inszenierung will als offensive Zurschaustellung dieser
Ausweglosigkeit verstanden werden. Das aus der Not begründete Unvermögen
der Künstlerin, in der Unordnung der Wirklichkeit künstlerische Einheit zu
wahren, überträgt sich auch auf das Publikum. Auch viele Zuschauer hätten
wohl lieber ein stringentes Drama gehabt, weshalb sich die Reihen im
Parkett nach der Pause merklich lichteten.
## Krimi ohne Handlung
Man ist an diesem Abend versucht, und durchaus auch gezwungen, denn Freude
stellt sich in den drei Stunden nur gelegentlich ein, diese Inszenierung
als Krimi ohne Handlung zu verstehen. In ihren guten Momenten weichen
Ungeduld und Frustration einer diffusen Beunruhigung. Von David Lynch heißt
es, er habe in die Tonspur einer seiner Filme eine Frequenz eingefügt, die
nicht hörbar ist, doch unterschwellig beim Publikum Stress auslöst.
Ähnliches ist auch hier zu bemerken.
Eine an Lynch geschulte Traumästhetik ergibt in Verbindung mit an Loriot
erinnerndem Humor und Ulrich Seidls berüchtigtem Interesse für das, was
sich hinter Reihenhausfassaden und biederen Mienen bürgerlicher Existenzen
verbirgt, eine morbide Stimmung, an der Frank Witzel seine Freude haben
dürfte. „Ich hab die Nacht geträumet“ lässt sich als Ausgestaltung seiner
BRD-Noir-Metapher verstehen, als Blick durch die Zeit und durchs
Schlüsselloch in eine Gesellschaft, die von nichts Bösem etwas wissen
wollte, doch der sich die eigene Gewalt ständig aufdrängte.
Freilich muss man Breths Programm vorwerfen, dass es in erster Linie
kulturgeschichtlich motiviert ist und sich von der Gegenwart inhaltlich wie
ästhetisch geradezu vehement abschottet. Die Inszenierung trägt somit
selbst jene eskapistischen Züge, die sie an ihren mattgrauen Figuren
vorzuführen versucht.
20 Mar 2023
## LINKS
[1] /Gespraechsband-ueber-BRD-Noir/!5285668
[2] /Andrea-Breth-am-Burgtheater-Wien/!5581834
## AUTOREN
Michael Wolf
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Theater
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