| # taz.de -- Fabian Hinrichs inszeniert in Berlin: Andeutung einer Orgie | |
| > Fabian Hinrichs beschäftigt sich mit dem Dichter Lord Byron an der | |
| > Berliner Volksbühne. Ein Schulorchester hilft dabei, ein Schauspieler kam | |
| > abhanden. | |
| Bild: „Sardanapal“ nach Lord Byron. Regisseur Fabian Hinrichs spielt mit Te… | |
| Kurz vor der Premiere ist der Inszenierung ihr Hauptdarsteller | |
| abhandengekommen. [1][Benny Claessens] gehe es nicht gut, und er könne | |
| nicht mehr Teil der Produktion sein, so Dramaturgin Anna Heesen vor Beginn. | |
| Das Wording lässt Spielraum für die Fantasie, dass man im Streit | |
| auseinanderging. Die gute Nachricht: [2][Regisseur Fabian Hinrichs] selbst | |
| werde nun auch die Titelrolle übernehmen, den Sardanapal. | |
| Der englische Romantiker, Dandy und Freiheitskämpfer Lord Byron | |
| verarbeitete in seinem Drama „Sardanapal“ die Geschichte eines legendären | |
| assyrischen Königs. Unwillig zu herrschen, gibt er sich selbst wie seinen | |
| Untertanten nur ein einziges Gesetz: Sie sollen essen, trinken und lieben. | |
| Das geht solange gut, bis sich seine Gefolgsleute gegen ihn verschwören. | |
| Als ihre Truppen sich dem Palast nähern, lässt er einen Scheiterhaufen | |
| errichten und verbrennt sich gemeinsam mit seiner Geliebten. | |
| Hinrichs hatte bereits vor ein paar Jahren in einem [3][Essay in der FAZ | |
| die Wiederentdeckung] des weithin vergessenen Stücks gefordert. Er deutete | |
| darin Sardanapals Hedonismus explizit politisch. Der Rausch, die | |
| Leidenschaft, die Feier des Moments seien Strategien, den Zwängen zu | |
| begegnen, die eine jede Gesellschaft gewaltsam strukturiere. Eine weitere | |
| Strategie ist mit der Kunst gefunden, so darf man es verstehen, wenn | |
| Hinrichs am Beginn des Abends versunken zu Barry White tanzt, Franz | |
| Schubert anstimmt und auch vor dem Eurodance-Hit „Blue (Da Be Dee)“ nicht | |
| Halt macht. „Ach, ich liebe Musik!“, ruft er begeistert aus. | |
| Die ist auch der Weg, über den er sich seinem Stoff annähert. Das | |
| Jugendsinfonieorchester Berlin aus dem Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium | |
| spielt Chopin, was Hinrichs an einen Traum erinnert, in dem er selbst Lord | |
| Byron gewesen sei. | |
| ## Träume einer Kassiererin | |
| Ein romantischer Geist weht durch die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. | |
| Nicht nur Hinrichs, auch Lilith Stangenberg will jemand anders sein, oder | |
| zumindest momentweise aus den bedrängenden Umständen der Realität fliehen. | |
| Sie spielt zunächst eine Supermarktkassiererin, die sich während der Arbeit | |
| an einen Strand träumt, sich in Sand und Wellen stürzt. | |
| Doch spätestens an dieser Stelle kommen Zweifel auf, wie ernst diese | |
| Beschwörung eines Fluchtversuchs gemeint ist. Ausgerechnet das Meer soll | |
| hier das Sehnsuchtsziel sein? Das wäre auch Til Schweiger als Erstes | |
| eingefallen. Und es braucht nun wirklich auch keinen singenden, tanzenden | |
| Fabian Hinrichs, um auf das eskapistische Potenzial von Musik hinzuweisen. | |
| Dasselbe wird in jeder Air-Pods-Werbung stimmiger rübergebracht. Dieser | |
| Inszenierung ist nicht zu trauen, was ihre vorgeblichen Ziele angeht. | |
| Wenn im späteren Verlauf des zweistündigen Abends tatsächlich einige Szenen | |
| aus Lord Byrons Stück vorkommen, dann werden sie auch eher vor- denn | |
| aufgeführt. Die Tänzerinnen und Tänzer des [4][Flying Steps Diploma] | |
| Programms deuten zaghaft eine Orgie an; Stangenberg taucht in ein Badefass | |
| und erklärt in ihren nassen, durchschimmernden Kleidern, sie habe sich in | |
| Aphrodite verwandelt; einigen Zuschauern wird Weißwein in Pappbechern | |
| gereicht. | |
| ## Szenen als Möglichkeit, Stoff zu erzählen | |
| Ein paar eindrückliche Bilder gelingen zwar, etwa wenn ein gigantischer | |
| roter Vorhang vom Schnürboden fällt, eine Akrobatin ein paar Sätze aus dem | |
| englischen Original des Stücks spricht, während sie an einem Tuch meterhoch | |
| über dem Bühnenboden turnt oder die Tänzer mit Glitzerschwertern | |
| aufeinander zu stürmen. Doch letztlich stehen diese Szenen nur für eine | |
| Möglichkeit, diesen Stoff zu erzählen, als Geschichte, in der tatsächlich | |
| etwas auf dem Spiel steht. | |
| Diese Möglichkeit aber nimmt Hinrichs selbst nicht wahr. Sein Spiel und | |
| seine Sprache sind ironisch grundiert, wahre Entschlossenheit nimmt man ihm | |
| schlicht nicht ab. Und das ist wirklich bedauerlich! Freilich gilt Hinrichs | |
| als Ausnahmeschauspieler, gerade weil er stets ein stückweit neben seinen | |
| Rollen steht, weil er nicht in diesen aufgeht, sondern sich, in den besten | |
| Momenten, melancholisch selbst betrachtet. | |
| An diesem Abend aber entsteht keine Dringlichkeit aus dieser Ambivalenz, im | |
| Gegenteil: Es wirkt, als wäre er bereit, seine ganze Inszenierung zu | |
| opfern, damit er selbst als Künstler autonom bleiben kann, nicht | |
| verwechselt wird mit einer Figur, einer Botschaft. Nicht mal die Kunst ist | |
| als Ziel also genug, um sich ihr tatsächlich zu verschreiben. Wenn das | |
| Orchester am Ende “Dancing Queen“ spielt und Hinrichs in Jesus-Montur mit | |
| weißem Lendenschurz zum Applaus vortritt, muss man an Benny Claessens | |
| denken. Sollte er aus künstlerischen Motiven ausgestiegen sein, man könne | |
| es verstehen. | |
| 25 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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