| # taz.de -- Punkband Pisse ist zehn geworden: Fliegerbombe, späte Rache | |
| > Vor zehn Jahren gründeten vier Ronnys in Hoyerswerda die Punkband Pisse. | |
| > Ihren Geburtstag feierte sie in der Berliner Volksbühne. | |
| Bild: Irgendwann hält es die Leute nicht mehr auf den Sitzen. Pisse in der Vol… | |
| Pisse ist eine Punkband, die vor zehn Jahren in Hoyerswerda gegründet | |
| wurde. Am Ostermontag wurde in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in | |
| Berlin Geburtstag gefeiert mit einer Gala, was natürlich an sich schon ein | |
| Witz ist, eine Gala für eine Punkband, und entsprechend wurde der Abend | |
| beworben: „Die Band feiert das Ende des langen Marsches zu den | |
| Fleischtöpfen der Bourgeoisie – entsprechend im Theater vor sitzendem | |
| Publikum. Erleben Sie Pisse und ihre ‚Freund:innen‘ auf dem Zenit ihres | |
| Schaffens oder überzeugen Sie sich live davon, ob dieser womöglich schon | |
| überschritten wurde.“ | |
| Der Titel auf den Werbeplakaten ließ Vorfreude aufkommen: „Pisse – | |
| bestuhlt!“ Brachte einen aber ins Grübeln darüber, warum deutsche Bands bei | |
| der Namensgebung zu Körperausscheidungen neigen. Kaum vorstellbar, dass es | |
| irgendwo sonst Bands geben könnte, die sich Mundstuhl, Kackschlacht oder | |
| Team Scheisse nennen. Letztere wurden jüngst berühmt, weil sie in der | |
| unlustigen Parodie auf Dieter Nuhrs Show auftraten. | |
| ## Pisse ist eine moderne Band | |
| Das Gute an Pisse ist, dass sie nicht so deutsch-kakafixiert sind, sondern | |
| den Geruch von Unterführungen und schmutzigen Ecken in Bahnhofsnähe | |
| aufrufen. [1][Pisse ist eine moderne Band], die sich der urban-elektrischen | |
| Volksmusik verschrieben hat, wie Robert Fischer sie nennt. | |
| Bevor sie das unter Beweis stellen, ist Gala angesagt. Erst wird gelesen. | |
| Dann hat ein Alleinunterhalter namens Franky Shampoo in blauweißem | |
| Superheldenkostüm und Fakeschaum auf dem Kopf seine drei Minuten. Gina | |
| D’Orio marschiert, nur vom Schlagzeug begleitet, über die Bühne und gibt | |
| „Computer Nr. 3“, France Galls Hit aus dem Jahr 1968, zum Besten. | |
| Angesichts von Tinder klingt das noch niedlicher als einst. | |
| Brezel Göring tritt mit Lilith Stangenberg auf, er singt ein Lied für | |
| Francoise Cactus: „Irgendwie gab es immer Ärger, seit du aufgetaucht bist.“ | |
| Damit ist nicht Francoise gemeint, sondern ihre lebensgroße Häkel-Wollita | |
| ([2][1,74, um genau zu sein, die taz berichtete]), die mit auf der Bühne | |
| ist. | |
| ## Mit Anglerhut und Lippenstift | |
| Den krassesten Act vor der Pause performen Caesar von Schnitzler. Weil | |
| schon zu viel Equipment auf der Bühne steht, verzichten die beiden | |
| maskierten Herren auf einen Live-Gig und spielen sitzend Teile ihres neuen | |
| Albums vom Mobiltelefon. Irgendwann hält es Thomas Mahmoud aber nicht mehr | |
| aus, schreit ins Mikro, springt wie von der Tarantel gestochen auf und rast | |
| über die Stuhllehnen durchs Publikum, bis er in Reihe acht abstürzt. Das | |
| ist der Stunt des Abends. | |
| Nach der Pause, in der schnell geraucht und getrunken wird, Pisse. | |
| Gitarrist Ronny – alle in dieser Band heißen Ronny, Hoyerswerda, ist ja | |
| klar – trägt Anglerhut und Lippenstift, er sieht sehr gut aus. Bassist | |
| Ronny spielt zwischendurch Theremin, und Keyboarder Ronny Trompete. Bei | |
| aller Räudigkeit sind Pisse mit den Wassern der Avantgarde gewaschen, ihre | |
| Texte Meisterwerke von poetischer Präzision. „Fliegerbombe“ zum Beispiel: | |
| „Die Bauarbeiten eingestellt. Die Experten machen sich bereit. Die | |
| Entschärfung fehlgeschlagen. Ein Gruß aus der Vergangenheit. Fliegerbombe, | |
| späte Rache. Stahl vergisst nicht.“ | |
| ## Ihr benehmt euch wie Dreck! | |
| Die Musik ist schnell und gut, aber es müssen ja alle sitzen, | |
| beziehungsweise sollen. In Reihe eins wird schon der Schampus aufgemacht | |
| und getanzt, von hinten fliegen leere Plastikbecher auf die Bühne, das Bier | |
| wurde klugerweise vorher getrunken. Ist nicht böse gemeint, eher | |
| symbolischer Pogo. Ronny kommentiert: „Dieses Haus wurde erbaut mit Mitteln | |
| der Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik und ihr benehmt euch | |
| wie Dreck!“ Schön gesagt, auch wenn es nicht stimmt: Die Volksbühne ist von | |
| 1914. | |
| Es gibt ein neues Stück im Programm. „Erwartet nicht zu viel!“, sagt Ronny, | |
| aber das ist Understatement. Ich verstehe nur den Refrain: „Das ist kein | |
| Tempel. Das ist ein Knast.“ | |
| 12 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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