# taz.de -- Post-Punk-Renaissance in Deutschland: Mit Karies und Pisse gegen St… | |
> Eine neue Band-Generation eignet sich den Post-Punk der Achtziger an. Sie | |
> heißen Human Abfall, Karies oder Pisse und ringen mit der Wirklichkeit. | |
Bild: Ganz schön genervt: Human Abfall bei einem Konzert in Berlin | |
Es ist kein Zufall, dass die Namen der Bands, um die es hier geht, | |
Unbehagen und Unwohlsein hervorrufen. Dass es um Krankheit und Fäulnis, um | |
Körperausscheidungen und Mordwerkzeuge (oder Küchengegenstände) geht: Human | |
Abfall, Karies, Messer. Man könnte die Reihe noch weiter führen: Die | |
Nerven, Puff!, Pisse. | |
All diesen Noise- und Synthiebands, die derzeit ziemlich viel Wirbel | |
entfachen, ist das Unversöhnliche schon im Namen eingeschrieben. Und nicht | |
nur in ihren Attitudes, sondern auch in der Musik zitieren alle – mal | |
deutlicher, mal versteckter – eine Epoche, die man gemeinhin mit den Jahren | |
1978 bis 1984 assoziiert: die Ära des Post-Punk. Vornehmlich britische | |
Bands wie Gang of Four, The Fall und Wire und in Deutschland die | |
Fehlfarben, Malaria! und The Wirtschaftswunder folgten unmittelbar auf Punk | |
– um aus seiner Negation auf intelligente Weise Neues zu schöpfen. | |
„Schmeiß alles hin und fang neu an“, heißt folgerichtig die 2005 | |
erschienene Post-Punk-Geschichte des britischen Autors Simon Reynolds | |
(Originaltitel: „Rip It Up and Start Again“). Darin grenzt Reynolds | |
Post-Punk ab von bloßer Neinsagerei: „Post-Punk war konstruktiv und | |
vorwärtsgewandt, schon die Bezeichnung zeigt an, dass die Anhänger dieser | |
Bewegung Vertrauen in eine Zukunft setzten, von der Punks behaupteten, dass | |
es sie nicht gäbe.“ | |
Momentan kann man hierzulande beobachten, wie sich eine Szene gebildet hat, | |
die sich auf Post-Punk und zu gleichen Teilen auf das Genre Noiserock | |
bezieht. (Letzteres ist ohne Ersteres gar nicht denkbar, ohne Post-Punk | |
keine Melvins und ohne Melvins kein Amphetamine Reptile, das US-Noise-Label | |
schlechthin in den Neunzigern). | |
## Zumutungen der Gegenwart | |
Um wen geht’s? In der Öffentlichkeit wurde bislang die Stuttgarter Szene am | |
Stärksten wahrgenommen: Das Krachrock-Trio Die Nerven um Sänger und | |
Gitarrist Max Rieger gilt einigen als zeitgemäße Nirvana-Version – ihre | |
Heimatstadt wurde zum Schwabenseattle gekürt. Rieger wird solo im September | |
unter dem Namen All Diese Gewalt ein weiteres Album veröffentlichen. Eng | |
verbandelt ist seine Band mit Karies. Dabei handelt es sich um ein | |
Noiserock-Quartett, das auf seiner gerade veröffentlichten EP extra fies | |
und schräg gegen die Zumutungen der Gegenwart ätzt. In enger Nachbarschaft | |
werkeln Human Abfall – die haben jüngst ein tolles, musikalisch wie | |
textlich starkes zweites Album („Form und Zweck“) herausgebracht. | |
Mit dem Stuttgarter Zirkel befreundet, aber in Hamburg, Münster und Berlin | |
angesiedelt, ist die Gruppe Messer: Die Band um Sänger Hendrik Otremba war | |
von Anfang an dabei beim Wiederaufgreifen von Post-Punk und veröffentlichte | |
kürzlich eine neue EP („Kachelbad“). Im August folgt das Album „Jalousie… | |
„Als Genrebegriff ist Post-Punk wunderbar offen“, sagt Otremba beim | |
Vorspielen der EP in seiner Wohnung in Berlin. „Damit könnten Talking Heads | |
genauso gemeint sein wie Einstürzende Neubauten. Es geht vielleicht erst | |
mal nur darum, innovativen Formen einen Namen zu geben.“ Messer treten, wie | |
die meisten dieser Gruppen, für stilistische Offenheit und ein | |
poststrukturalistisches Textverständnis ein. | |
Während Otremba den [1][EP-Titeltrack „Kachelbad“] abspielt, ein | |
vorgetragenes Gedicht mit nachhallender Stimme und Sounduntermalung, | |
erzählt der 31-Jährige, er halte es mit Susan Sontags Paradigma „Against | |
Interpretation“ und – analog zum „Tod des Autors“ in der Literatur – … | |
dem „Tod des Musikers“. Für das Interesse des Kulturbetriebs an Gruppen wie | |
Die Nerven oder Messer hat Otremba eine simple Erklärung: „Künstlerische | |
Drastik ist wieder gefragt.“ | |
Angesichts des Zustands der Welt sei das auch nicht verwunderlich. | |
„Katastrophen erreichen einen medial ja frontal, natürlich spiegelt sich | |
das in unserer Kunst wider. Es gibt keinen Grund zur Euphorie. Was die | |
politische Situation betrifft, bin ich mit genauso vielen Fragezeichen im | |
Kopf unterwegs wie viele andere.“ Dringliche und unbeantwortete Fragen nach | |
Gegenwart und Zukunft sind bei all diesen Bands in den Sound | |
eingeschrieben. Auf der Messer-EP klingt selbst ein Liebeslied wie „Der | |
Mann, der zweimal lebte“ nach Totentanz. | |
Bettina Köster gehörte in den Achtzigern zu der Generation, die alles | |
wegschmiss und neu anfing. Köster, Jahrgang 1959, spielte im Westberlin der | |
späten Siebziger bei Mania D. und dann bei Malaria! – in beiden Bands waren | |
nur Frauen tätig. Sie begrüßt die Post-Punk-Renaissance: „Was die | |
Zeitperiode bis 1983 oder 1984 betrifft, so habe ich mich immer gefragt, | |
wann sie fortgeführt wird – nicht als Retrospektive, sondern wieder | |
aufgegriffen und in die Gegenwart übersetzt. Wir standen damals für eine | |
Verweigerungshaltung, die aber gleichzeitig ein Beitrag ist“, sagt sie am | |
Telefon. | |
## Bezüge zu Bands der Achtziger Jahre offensichtlich | |
Köster entdeckt diese Haltung bei den Berliner Synthie-Punks Puff! wieder, | |
die man als Totalverweigerer bezeichnen müsste und bislang Geheimtipp | |
geblieben sind. Die mit ihnen befreundete, aus Hoyerswerda stammende Band | |
Pisse („Scheiß DDR“) ist in ähnlichem Fahrwasser unterwegs, beide grenzen | |
sich von den Stuttgartern dadurch ab, dass sie eines als Allerletztes zu | |
wollen scheinen: feuilletontauglich werden. | |
Diese Bands machen alles andere als machistische Musik, dennoch ist die | |
Szene männlich geprägt. Was auch daran liegt, dass die Frauenbands zuletzt | |
abgetaucht sind (Candelilla aus München arbeiten an einem neuen Album) | |
oder für einen Sound stehen, der stilistisch weiter gefasst werden muss | |
(Die Heiterkeit und Schnipo Schranke aus Berlin und Hamburg). | |
Die Bezüge der neuen Bands zu den frühen 80ern sind offensichtlich. Human | |
Abfall referieren in „Es ist, wie es ist“ direkt auf Thomas Meinecke (von | |
der Münchner Band F.S.K.) und die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift | |
Mode und Verzweiflung. | |
Themen wie gesellschaftlicher Stillstand, reaktionäre Haltungen, | |
Weltenende, „alles bleischwer“, wie es bei Human Abfall heißt: auch da | |
Reminiszenzen an die bleierne BRD. Überrascht das nicht angesichts einer | |
völlig veränderten Situation? Nein, sagt Christoph Jacke, der Theorie, | |
Ästhetik und Geschichte der Populären Musik an der Universität Paderborn | |
lehrt: „Heute ist die weltpolitische Situation noch unübersichtlicher und | |
fluider. Aber es gibt auch vieles, das erschreckend ähnlich ist: Die | |
Zerstörung der Umwelt hält an, rechte Fundamentalisten gewinnen an Macht – | |
und nicht umsonst hat auch der Neoliberalismus heutiger Prägung seine | |
Grundlage in den Achtzigern.“ | |
Musikalisch kommen Post-Punk-typische Elemente zum Tragen: extremer Hall | |
auf der Gitarre, eine dröhnende Bassgitarre, kühl-steriler Gesang, dazu | |
manchmal Offbeat-Gitarren, entlehnt bei Dub-Reggae. Bei Die Nerven und | |
Karies klingen Noise-Bands wie The Jesus Lizard oder Shellac an. Puff! und | |
Pisse sind um einiges rotziger und sarkastischer; sie sind näher beim | |
ätzenden Fun-Punk, wie ihn die Goldenen Zitronen fabriziert haben. | |
Wenn man Post-Punk als die artifiziellere und progressivere Form des Punk | |
versteht, ist es ein gutes Zeichen, dass sich im deutschen Underground | |
gerade so viel bewegt. Was diese neue Post-Punk-Klasse von vielen anderen | |
deutschsprachigen Bands unterscheidet, ist, dass sie nichts wiederkäuen. Es | |
geht nicht um Revival. Es geht darum, auszuloten, wie man 2016 über eine | |
brüchige Gesellschaft sprechen kann. Mit sperrigem Sound, mit spröden | |
Worten. | |
17 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=f6oMQ1QVHRs | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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