# taz.de -- Debut-Album von Julian Knoth: Die Ahnung von Ekstase | |
> Als Sänger und Bassist der Postpunkband Die Nerven begeistert Julian | |
> Knoth mit unbändigem Krach. Ob sein Debut „Unsichtbares Meer“ auch so | |
> laut ist? | |
Bild: Verwaschen, weich und blau wie die Musik: Julian Knoth | |
Manchmal hat man es wirklich nicht leicht als Musiker. Da ist man seit | |
vielen Jahren prägende Figur einer der zweifelsohne [1][energetischsten | |
Rockbands des Landes], die mit lärmendem Tempo das Publikum förmlich an die | |
Wand spielt. Und dann sitzt man am Fenster, schaut auf den [2][Hinterhof | |
der Welt] und plötzlich geht dir ein Licht auf. | |
Da fließen ganz zarte Songs aus dem Kopf in die Saiten. Leise, | |
zerbrechliche, gelegentlich verzweifelte kleine Stücke, die nirgendwo so | |
richtig hinpassen, jedenfalls nicht in die bisher genutzten Bandkonzepte, | |
weil sie – anstelle eines wild gewordenen Tiers an den Drums hinter dir – | |
Streichereinheiten verlangen. | |
Genau so ist es Julian Knoth ergangen. Seit gut 15 Jahren ist er Bassist | |
und einer der beiden Sänger des ursprünglich aus Stuttgart stammenden Trios | |
Die Nerven, das mit Post-Punk und Noise-Rock die Liebhaber gepflegten | |
Krachs beglücken – auch dank Knoths treibender Bassläufe und -breaks. | |
Doch dann kam Corona. Und Julian Knoth ging es wie vielen anderen. Gar | |
nicht gut. Er sang für sich allein ein paar Lieder zur akustischen Gitarre. | |
„Ich habe während dieser Zeit viele Sachen verstanden“, sagt Knoth. Auch, | |
dass es sich hier um Songs für sein erstes Soloalbum handeln könne. | |
## Es dauerte fünf Jahre bis zur Veröffentlichung | |
[3][„Unsichtbares Meer“ heißt das nun]. Dass es nochmal fünf Jahre dauert… | |
bis es veröffentlicht wurde, hat sicher nicht nur mit Knoths Introspektion | |
zu tun. Mit der Annäherung an eine Depression. Sondern auch daran, dass | |
wohl erst mit gehörigem Abstand erkennbar wird, was diese Einsamkeit | |
produzierende Pandemie mit vielen Menschen gemacht macht. | |
„Die Stille kam heut früh“, singt Knoth da über „eine seltsame Zeit“.… | |
Lied“, heißt das Stück, „kein Lied, das mich berührt“, der Refrain. Ab… | |
ist viel mehr als kein Lied, es ist ein Übergang. | |
Nun waren auch viele Songs der Nerven keineswegs frei von depressiven | |
Zweifeln, Ängsten, Klaustrophobie. Aber stets wurden sie [4][mit | |
traumwandlerisch hergestelltem Schalldruck weggebasst]. Ähnlich war es auch | |
beim Soloprojekt von Max Rieger, dem Gitarristen und anderen Sänger von Die | |
Nerven. [5][Die Songs] seines [6][Nebenprojektes „All dieses Gewalt“], | |
waren experimenteller noch als die puren Nerven-Stücke. Aber immer auch | |
gewaltig. | |
Auf Knoths Soloablum jedoch werden statt eines treibenden Basses nur die | |
Saiten der Akustikgitarre gezupft, allenfalls ganz leicht mal angerissen. | |
Aber dann kommen gleich die Streicher. Sie kleistern nichts zu. Sie stehen | |
im Mittelpunkt. | |
## Barock statt Rock | |
„Unsichtbares Meer“, [7][das dritte und zudem titelgebende Stück des | |
Albums], bestreitet das „Trio Abstrich“ sogar ganz allein. Ohne Gitarre. | |
Ohne Knoths Stimme. Stattdessen bieten Violine, Viola und Cello eine Minute | |
und 20 Sekunden ein Stück klassisches Gefiedel à la …, ja was ist das? | |
Händel? Vivaldi? Telemann? Bach? Barock statt Rock. Weiter zurücknehmen | |
kann ein Post-Punker sich nicht. Näher ran an ein auf der Hand liegendes | |
musikalisches Stilmittel aber auch nicht. | |
Nur seine Texte ähneln dem bekannten Vorgehen der Nerven. Es gibt keine | |
lyrisch komplexen Elaborate. Stattdessen Fetzen nur von abgerissenen | |
Gefühlsbrocken. „Gestern hatte ich noch einen Traum, weißt du noch, was | |
gestern war“, singt Knoth. | |
„Ich habe in größter Depression und Melancholie alleine angefangen, dieses | |
Album zu schreiben. Am Ende ist es ein solidarisches Projekt mit vielen | |
Freund*innen geworden“, sagt Julian Knoth. | |
Das kulminiert im letzten Stück, einer grandiosen Hymne der Hoffnung. „Wir | |
werden nie mehr einsam sein und nie nie wieder allein“, singt Knoth dort | |
als Mantra. Erst nur mit der Gitarre. Dann tropft ein Klavier herein. Der | |
Chor der Freund:innen. Langsam, ganz langsam steigert sich das Stück. Keine | |
Ekstase. Das wäre zu viel. Aber eine Ahnung davon. Es ist das Finale, dass | |
Knoth und seine Zuhörer:innen wieder rauszieht aus dem Sumpf der | |
Corona-Pandemie. | |
Ende des Jahres wird Knoth mit seinem Soloalbum [8][auf Tournee gehen – | |
samt kleinem Ensemble mit den Streichern]. Und man wünscht sich dieses | |
Stück als niemals endende Zugabe, die sich bis ins glückbringende Delirium | |
schraubt, bei der schließlich alle, aber auch wirklich alle alles | |
mitsingen. „Wir werden nie mehr einsam sein und nie nie wieder allein“. | |
Auch auf dem Heimweg. Auch Tage später noch. | |
16 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Album-der-Band-Die-Nerven/!5497714 | |
[2] https://julianknoth.bandcamp.com/track/hinterhof-der-welt | |
[3] https://julianknoth.bandcamp.com/album/unsichtbares-meer | |
[4] /Neues-Album-der-Band-Die-Nerven/!6041683 | |
[5] https://alldiesegewalt.bandcamp.com/ | |
[6] /Vielleicht-sollte-man-nach-Stuttgart-ziehen/!5406591/ | |
[7] https://julianknoth.bandcamp.com/track/unsichtbares-meer | |
[8] https://www.instagram.com/p/DJRHApAs5_1/ | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
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