| # taz.de -- Neues Album der Band Die Nerven: Gegen die Wand | |
| > Das Noisrocktrio Die Nerven zelebriert auf seinem Album „Wir waren hier“ | |
| > die hohe Kunst des Lärms. Ein Übriges tun klaustrophobische Songtexte. | |
| Bild: Die Nerven: Max Rieger, Kevin Kuhn und Julian Knoth | |
| Angst ist kein schönes, sondern vielmehr ein ausgesprochenes Scheißgefühl. | |
| Denn Angst macht alles eng und klein. Wenn es im Pop um Angst geht und das | |
| gut aussieht und vor allem klingt, dann nur weil diese Drecksempfindung in | |
| eine Erzählung oder auch Mythologie von Entfremdung und schickem | |
| Verlorensein eingebettet worden ist. | |
| Auf „Wir waren hier“, dem neuen, sechsten Album der ehemals komplett in | |
| Stuttgart und heute zu zwei Dritteln in Berlin wohnenden Noiserockband Die | |
| Nerven kreisen die Songtexte wieder viel um Angst und verwandte, ungute | |
| Gefühle und Stimmungen. [1][Diese werden vermittelt in klaren Sätzen und | |
| einfachen Bildern], die isoliert voneinander auch im Poesiealbum eines | |
| reizsensiblen und sehr begabten 16-Jährigen mit situationsangemessenen Hang | |
| zum Pathos nicht weiter auffallen würden. | |
| „[2][Warum hab ich Angst, aber du nicht?]“, oder [3][„Ich schreie lauter | |
| als die Wellen / Ich schreie lauter als das Meer“]. Auch ein schönes | |
| [4][Renitenzlied ist auf dem Album] enthalten: „Erhöh die Frequenz / Bau | |
| den Druck auf / Bau ihn turmhoch / Alles gut, das Problem bin ich selbst / | |
| Ich hab mich nie weniger für eure ganze Scheiße interessiert / Ich will | |
| nicht mehr funktionieren“. | |
| ## Abschied von Gestern | |
| Und ein Abschied von Gestern: „Ein Hoch auf die Jugend / Zum Glück ist sie | |
| vorbei“. Die Songtexte mögen sich hingeschrieben zwar etwas unbeholfen | |
| lesen, aber der von Album zu Album von den Nerven [5][in der klassischen | |
| Triobesetzung Drums, Bass, Gitarre immer traumwandlerischer hergestellte | |
| Schalldruck] sorgt für Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft. Wer es hört, | |
| glaubt es sofort. | |
| Die Songtexte wären also wenig ohne die Musik. Die Nerven verfertigen im | |
| selbstlosen Zusammenspiel souverän eine massive Wand, wenn auch auf „Wir | |
| waren hier“ mit mehr Luft als noch auf dem sehr konzentrierten namenlosen | |
| Vorgängeralbum. Die Songs auf dem neuen gehören musikalisch zum | |
| Brachialsten, was deutschsprachige Rockmusik seit langer Zeit, mindestens | |
| aber seit dem letzten Die-Nerven-Album von 2022, hervorgebracht hat. | |
| ## Vage und bestimmt zugleich | |
| Alles muss raus, und das mit dieser Mischung aus Vagheit und maximaler | |
| Bestimmtheit zugleich, die formvollendete Songs von Rockbands mit latent | |
| devianten Identifikationsangebot so anschlussfähig und zwingend werden | |
| lässt. Primär geht es, wie gesagt, um Angst und Innendruck, nicht um | |
| Wehmut. Melancholie und eine eher in sich gekehrte Verzweiflung gehören | |
| eher zum Singer-Songwritertum. | |
| Das von Die Nerven in die Welt gestellte Gemenge aus Unbehagen und | |
| Depressivität bei gleichzeitigem Umsichschlagen und Schreien, auf dass das | |
| alles jetzt bald mal aufhört, in dem Wissen, dass ein Ende nicht in Sicht | |
| ist, gehört eher zum Postpunkuniversum. | |
| Bei der Erwähnung des Wortes „Postpunk“ soll [6][Nerven-Sänger und | |
| -Gitarrist Max Rieger] schon mal aufgesprungen sein und die | |
| Interviewsituation zeternd verlassen haben, erzählt man sich. An ihm | |
| habituelle Rigorosität der Jugend bei gleichzeitiger performativer Arroganz | |
| lässt sich jedenfalls auch heute noch beobachten. | |
| Zum Beispiel im Gespräch mit dem Musikmagazin Visions, auf die Frage nach | |
| Verbindungen zwischen Die Nerven heute und der klassischen Postpunkmusik | |
| von Anfang der 1980er, erwiderte Rieger: „Die Achtziger, da klingt leider | |
| alles scheiße.“ | |
| ## Auf die Haltung kommt's an | |
| Das ist natürlich apodiktischer Quatsch, viele Postpunkalben aus den | |
| Achtzigern klingen ganz hervorragend. Aber es geht im Pop ja weniger um | |
| sachlich korrekte Aussagen, sondern mehr um ein performatives Zelebrieren | |
| von Haltungen, die einem als Hörerin und Hörer mit Erfolg suggerieren, dass | |
| ein Leben nur mit dieser Musik im Gepäck intensiver, schneller und tiefer | |
| wird. | |
| Man kann sich gegen die bloße Erwähnung von Ahnen wehren, aber es gibt sie | |
| trotzdem. Jung sein, aber so singen, als hätte man alles schon erlebt und | |
| sei quasi elternlos, ist nicht die einzige Verbindung zwischen den Nerven | |
| und Postpunk. Dazu muss man hierzulande die Düsseldorfer Fehlfarben zählen. | |
| Die Band um [7][Sänger Peter Hein] kreiselte auf ihrem stilbildenden Album | |
| „Monarchie & Alltag“ (1980) ebenfalls um Gefühle wie Entfremdung und Angst | |
| und verabschiedete sich in den Songs von der eigenen Jugend. „Wir tanzten | |
| bis zum Ende / Zum Herzschlag der besten Musik“, aber „Das war vor Jahren�… | |
| Einer der ersten, wenn man so will, Nerven-Hits, „Angst“, nahm dann auch | |
| den Faden von den Fehlfarben direkt wieder auf. | |
| ## Skeletthafte Sätze | |
| „Bleib im Hellen, bleib im Licht / Auf der Straße, da kriegen sie dich | |
| nicht / Der Schweiß klebt mir das Hemd an den Rücken / Wir sind Verbrecher, | |
| die sich nach Kippen bücken“, hieß es bei den Fehlfarben 1980. Peter Hein | |
| dachte damals noch eher in Bildern, in „Angst“ von Die Nerven waren es vor | |
| zehn Jahren skeletthafte Sätze, die Hörerinnen und Hörern viel Raum für | |
| Eigenes lassen: „Ich habe Angst vor Begebenheiten / Ängste vor Situationen | |
| / Obwohl ich weiß, dass diese Ängste / Sich überhaupt nicht lohnen“. | |
| Wichtig, was die Angst angeht, aber auch jedes andere mit ihr verwandte | |
| oder von ihr ableitbare Gefühl das hier sich artikulieren soll: Es geht in | |
| den Songs der Nerven um den möglichst direkten Ausdruck, nicht um | |
| Beschreibungen oder Brechungen. Dass die Musik nicht in doofe | |
| Authentizitätsversprechen zurückkippt, liegt dann aber daran, dass das Ich, | |
| welches hier spricht, ständig von den eigenen Brüchen spricht. In der | |
| eigentlich immer recht einfachen, rustikalen Metaphorik von Nerven-Sänger | |
| Max Rieger formuliert: „Mein Leben eine Wunde / Offen und rot“. Oder | |
| schöner: „Das Glas zerbricht und ich gleich mit“. | |
| ## Musik, Angst und Therapie | |
| Musik, Angst und Therapie: Gerade den expressionswütigeren Formen von | |
| Rockmusik wurde früher oft kathartisches Potenzial unterstellt. Die Nerven | |
| forderten so was auf dem Album „Fake“: „Lass alles los / Gib alles frei�… | |
| Man hört die Musik, wird von ihr durchgeschüttelt und kommt irgendwie | |
| gereinigt aus ihr raus. Man weiß inzwischen, dass das so nicht | |
| funktioniert. | |
| Trotzdem ist eine Rockmusik, die von Scheißgefühlen handelt, strukturell | |
| therapeutisch und damit auch die neueste Runde Angstmusik der „letzten | |
| Rockband Europas“ (Die Nerven über Die Nerven). Was natürlich in einem Text | |
| über Musik nicht diagnostisch gemeint ist, sondern als Versuch sie zu | |
| beschreiben. Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn können wir uns als | |
| glückliche Menschen vorstellen oder auch nicht, beziehungsweise es ist | |
| egal. | |
| Der Gesang bildet den Versuch der Versprachlichung dessen, was das Subjekt | |
| umtreibt oder auch quält, die Soundwand aus Schall und Druck bildet die | |
| tragende Struktur oder auch die Couch, auf der das alles sein und hörbar | |
| werden darf. Die Struktur bleibt lebendig, auch wenn das Subjekt immer | |
| wieder singend darauf insistiert, dass es kurz davor ist, der Welt abhanden | |
| zu kommen („Und ich fühl mich so fremd / Weiß nicht, wie man es nennt“). | |
| Nur Therapeutin oder Therapeut sind abwesend. | |
| Auch deswegen ist das, was man aus diesen Liedern über Weltschmerz und | |
| Nicht-mehr-Funktionieren-Wollen ziehen kann, Bestätigung und Erbauung | |
| und eben keine Disruption, sondern Stabilisierung dessen, was man eh schon | |
| ist. „Schau, meine Hände, sie zittern / Nur Ergebnis meiner Irritation / | |
| Hältst kurz inne und hörst mir zu / Doch was du hörst, das wusstest du | |
| schon“. | |
| Ein ausgesprochen tolles Album. | |
| 10 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neues-Album-von-Rockband-Die-Nerven/!5887697 | |
| [2] https://glitterhouserecords.bandcamp.com/track/das-glas-zerbricht-und-ich-g… | |
| [3] https://glitterhouserecords.bandcamp.com/track/bis-ans-meer | |
| [4] https://glitterhouserecords.bandcamp.com/track/ich-will-nicht-mehr-funktion… | |
| [5] /Neues-Album-der-Band-Die-Nerven/!5497714 | |
| [6] /Max-Riegers-Album-Welt-in-Klammern/!5344962 | |
| [7] /Musiker-Peter-Hein-ueber-Trotz/!5270454 | |
| ## AUTOREN | |
| Benjamin Moldenhauer | |
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