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# taz.de -- Andrea Breth am Burgtheater Wien: Ein großer Abgang
> Die Regisseurin Andrea Breth verabschiedet sich vom Wiener Burgtheater
> mit einer fulminanten Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“.
Bild: Andrea Breths Inszenierung „Die Ratten“ in Wien
Es wird Licht, zu laut hämmernden Rhythmen beschleunigt die Drehbühne des
Wiener Burgtheaters. Aus allen Winkeln strömen sie ins Licht: anonyme,
stumme Gestalten verborgen unter Hut und Mantel, aber auch die
SchauspielerInnen der kommenden Stunden. Rechtzeitig bevor Text einsetzt,
hat die rotierende Bildfläche die Gesichtslosen wieder zum Rand
geschaufelt. Sie werden später wiederkommen, still stehend Unbehagen
verbreiten, im Schlussbild liegen sie dann nur noch im Dreck eines
verwaisten Schlachtfelds.
Es geht um „Die Ratten“ (1911) von Gerhart Hauptmann und das, was das Bild
dieser Tiere in der spontanen Wahrnehmung auslöst – im evolutionären
Programm der Körper ebenso wie im Baukasten der Assoziationen, die unsere
Kultur bereitstellt. „Die Ratten“ handeln von menschlichen Verhältnissen,
die dazu veranlassen, tierischer als jedes Tier zu sein. Hauptmann
changiert zwischen präziser Gesellschaftsanalyse und tiefem
anthropologischen Pessimismus, ein Widerspruch, der den Autor bis heute
interessant macht.
Der metaphorische Gebrauch der Nagetiere scheint ein Jahrhundert später
nicht ganz unproblematisch. Dem an die Macht sich anschmiegenden deutschen
Geist waren die Massen nie geheuer. Auf der Bühne gebiert die
Angstlustfantasie von Tieren, die triebgesteuert, kollektiv und destruktiv
ihr Biotop zu dominieren drohen, ganz nebenbei Monster. Dunkelgraue
Rattenskulpturen in der Größe von Shetland-Ponys tauchen im Halbdunkel auf.
## Nachhall der Sprache
Martin Zehetgrubers Bühne hebt das naturalistische Drama heraus aus dem
wohligen Dreck, in dem sich die Rezeptionsgeschichte mit ihm eingerichtet
hat. Kein Kohldampf, kein Milieu, kein Hinterhof-Idiom. Stellwände mit
gewellten Lichtplatten aus Polycarbonat oder Acryl strukturieren den
Bühnenraum. In einem Segment scheppern bei Bespielung Blechdosen.
Das abstrahierte Elend wirkt irritierend clean, aber dafür umso
lebensfeindlicher. Zehetgruber stößt die Tür zu einem Denkraum auf, in dem
sich das Theater von Andrea Breth, eines das sich einzig auf die Sprache
und ihren Nachhall im Körper und im Bewusstsein der SchauspielerInnen
verlässt, noch einmal bis in schwindelnde Höhen entfalten kann. „Die
Ratten“ sind nach zwei Jahrzehnten, in denen sie das Haus künstlerisch
vielleicht mehr prägte, als sie es als Intendantin hätte tun können, ihre
vorerst letzte Arbeit am Burgtheater, zu der sie weite Teile ihres
Theaterensembles noch einmal versammelt hat.
Andrea Breth verlegt einen der wohl irritierendsten Dialoge der
deutschsprachigen Dramenliteratur hinter sprödes Baumarktacryl. Die
kinderlose Frau John (Johanna Wokalek) schwatzt und presst dem ungewollt
schwangeren Dienstmädchen mit polnischem Migrationshintergrund Pauline
Piperkarcka (Sarah Viktoria Frick) ihr künftiges Kind ab. Die Silhouetten
von Frick und Wokalek leuchten im harten Seitenlicht. Die Wellenform der
Lichtplatten verzerrt ihre Züge. Im Verbergen kehrt sich das Ungeheure umso
deutlicher hervor.
## Maschinenhafte Zielstrebigkeit
Pauline wird schreien, zappeln, um sich schlagen. Ihre Gegenwehr liest
Sarah Viktoria Frick nicht als individuelle Verzweiflung, sondern als das
letzte entpersönlichte Wüten der Kreatur. Naturrecht? It’s the economy,
stupid! Was ist dieser Elendshandel schon gegen eine osteuropäische oder
asiatische Leihmutterschaftsindustrie, die ganz ohne Geschrei prächtig
floriert.
So kommt auch Johanna Wokalek gänzlich ohne an die Brust drückende Natur-
und Mutterbehauptungen aus. So klein die Welt von Frau John, der
Maurerpoliersgattin, auch ist, sie will etwas aus sich machen und
entwickelt dabei diese maschinenhafte Zielstrebigkeit, mit der noch die
unterschichtige C-Prominenz heute nach den Sternen jagt.
Bei Breth bekommt man das Kind noch nicht mal als Windelbündel zu Gesicht,
das Wechselbalg einer vom emotionalen Elend induzierten Wahnvorstellung?
Was Frau John letztlich in den Wahn treibt, bis er ihr die Strümpfe
zerreißt, ist das Paradox der Selbstbestimmung dort, wo das Selbst längst
nichts mehr zu melden hat. Im Schlussbild hängt sie nur leblos über ihrem
leeren Kinderwagenfetisch.
## Kraft der schauspielerischen Mittel
Wie viel Gegenwart und Welthaltigkeit Johanna Wokalek und ihre Regisseurin
aus diesen scheinbar doch so gut gekannten Sätzen lesen, ohne dass man sie
dafür auf ein triviales Sosein „runterbrechen“ oder überschreiben müsste.
Bei aller Manifestlyrik über das Theater der Zukunft sind der
historisch-kritische Umgang mit Texten und ihre Entfaltung durch
schauspielerische Mittel noch lange nicht vorbei, zumindest dort, wo er
nicht falsche Autoritäten und überholte Geltungsansprüche vertritt.
Um die verlorenen Geltungsansprüche falscher Autoritäten geht es im
komödiantischen Gegenspiel, mit dem Hauptmann seine Tragödie, die gerade
deshalb zur Tragödie wird, weil sie vermeidbar wäre, durchsetzt. Der
vorübergehend arbeitslose Theaterdirektor Hassenreuter (Sven-Eric Bechtolf)
unterrichtet zu Hause talentlose Selbstzahler im
Standbein-Spielbein-Pathos. KünstlerInnen-Prekariat ist nicht nur eine
Frage der Gegenwart.
Die unbändige Lust dieser Szenen an den Varianten eines gut gesetzten
Schlechtspielens wird noch einmal gebrochen in einer poetologischen
Reflexion, die Hauptmann über die Grenzen der Sprache der Kunst anstellt.
Die Grenzen sind an diesem Abend weit vorgeschoben, die kleinste Rolle noch
eine kostbare Miniatur.
## Realismus als Form der Verfremdung
Andrea Breths Programm, Realismus als Form höchstmöglicher Verfremdung auf
die Spitze zu treiben, ist für Wien vorerst beendet. Unterm neuen
Burgtheaterdirektor Martin Kušej wird Breth nicht mehr von der Partie sein.
Breth kritisierte im Vorfeld nicht die Entscheidung selbst, sondern ihre
Umstände: Dieses Wie „war nicht so besonders erfüllt von Anstand“. Gemess…
an Breths sonstiger Zurückhaltung bei öffentlichen Äußerungen, ist das eine
subtile Kampfansage. Für ein Haus, das selbst unter dominierenden Leitern
wie Claus Peymann ein Ort der Vielfalt von Theaterpositionen war, bedeutet
es möglicherweise ästhetische Verarmung. Dies bewirkt zu haben könnte sich
für Martin Kušej zur Hypothek auswachsen, die ihm die Wiener Niedertracht
nach anfänglicher Begeisterung womöglich schnell fällig stellt.
1 Apr 2019
## AUTOREN
Uwe Mattheiß
## TAGS
Burgtheater Wien
Schauspiel
Mutterschaft
Gerhart Hauptmann
Theater
Deutsche Kultur
Wien
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