| # taz.de -- Extremes Spiel am Burgtheater Wien: Dieser Prinz ist gefährlich | |
| > August Diehl als Hamlet. Sein Spiel ist ein Hybrid aus den höchsten | |
| > Gegensätzen. Von einer anderen Seite kratzt René Pollesch an den Grenzen | |
| > des Theaters. | |
| Bild: August Diehl (Mitte) hat einen gefährlichen und über die sechs Stunden … | |
| Ruhe, der König spricht! Roland Koch tritt vors Mikrofon. Es ist eines | |
| dieser toasterförmigen Vintage-Geräte und passt trefflich zum gediegen | |
| modernen, irgendwann in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus der Zeit | |
| gefallenen Ambiente, vor dem die Regisseurin Andrea Breth so gern die | |
| Haupt- und Staatsaktionen der Theaterliteratur verhandelt. | |
| Im Wiener Burgtheater ist jeder Sektor der Drehbühne mit dunklem Holz | |
| vertäfelt. Die Maschinerie spielt – wie man hier umgangssprachlich sagt – | |
| „alle Stückeln“ (Ausstattung: Martin Zehetgruber). Jede Dritteldrehung | |
| wirft in einem neuen Showroom den Retro-Chic der aktuellen | |
| Helsingör-Kollektion aus. Lange Tafeln, sparsam ausgeleuchtete | |
| Polstermöbellobbies. | |
| Was einst auf elisabethanischem Bretterboden stampfte, flieht in | |
| Filmschnittrhythmus und Breitwandformat von Ort zu Ort. Die dunkle Kälte | |
| des Nordens lässt sich als aparte Innenhofinstallation durch | |
| Panoramafenster betrachten. Hier treibt zwischen täuschenden Lichtreflexen | |
| auch Hamlets Geist (Hans Michael Rehberg) sein Unwesen, wenn er nicht | |
| gerade im Hotelbademantel bei der sündigen Königin Gertrud (Andrea Clausen) | |
| vorbeischaut. | |
| Diese Dänen sind unglaublich distinguierte Leute, selbst wenn sie morden. | |
| Der Zweireiher des Königs glänzt weiß in Seide und die Höflinge stehen in | |
| auf knappe Passform geschnittenen Pastelltönen stramm. Nur einer schlurft | |
| herein mit wirrem Haar, ausgeleiertem T-Shirt und stumpfem schwarzem | |
| Schlabberanzug. Er haut sich in die Sessel mit seiner zerknüllten | |
| Plastiktüte, als lande er im Morgengrauen endlich auf der ersehnten | |
| Parkbank. | |
| ## Philosophie, schlechte Tabletten | |
| Was dem Prinzen Hamlet (August Diehl) den Kopf so schwer macht, | |
| Philosophie, zu viel Dichtung, schlechte Tabletten, das lässt sich nicht so | |
| recht erschließen. Pennt er einfach weiter oder springt er jeden Moment | |
| ansatzlos König Claudius an den Hals, um seinem Stiefpapa und Vatermörder | |
| die Kehle durchzubeißen, das scheint nur eine Frage von Nuancen. Dieser | |
| Prinz ist gefährlich wie ein verwundetes Tier, das zum letzten Schlag | |
| ausholt. | |
| Ja, aber muss das denn sein? Man kann doch reden. Bei Hofe hat man alle | |
| liberalen Erziehungsratgeber gelesen. Als wäre er der königlich dänische | |
| Hofpsychotherapeut überschüttet Claudius das schwierige Kind mit Empathie. | |
| Er doziert, wie vorteilhaft es doch sein kann, im Einklang mit der | |
| Wirklichkeit zu leben, in der er ihm, Hamlet, alles geraubt hat. Der Prinz | |
| schmeißt die Familiensitzung. | |
| ## Ein Jahrhundert nach Freud | |
| Wie kann man ein Jahrhundert nach Freud den Hamlet spielen? Wo das | |
| Unbewusste keine Entdeckung mehr birgt und selbst Geistererscheinungen als | |
| Störung des Dopaminhaushalts medikamentös eingestellt werden? August Diehl | |
| hat mit seiner Regisseurin Andrea Breth einen gefährlichen und über die | |
| sechs Stunden des Abends stets gefährdeten Weg eingeschlagen. Er verwendet | |
| die Hamlet‘schen Erzwingungsstrategien buchstäblich aufs eigene Spiel. Des | |
| Prinzen selbstinduzierter Wahnsinn ist es, der der entstellten Wirklichkeit | |
| erst ihre Wahrheit abringt. | |
| Sein Paradox: Er stürzt in die Selbstauflösung und wird darin erst | |
| handlungsfähig. Diehl begegnet ihm mit radikaler Identifikation bis in die | |
| letzte Haarfaser und entwirft daraus trotzdem Perspektiven der | |
| Distanzierung. Sein Spiel ist ein Hybrid aus den höchsten Gegensätzen, die | |
| sich in der Theorie über die Arbeit des Schauspielers formulieren lassen. | |
| Identifikation und Kommentar, Illusion und Transparenz sind eins. Es | |
| jongliert gleichsam mit dem eigenen Schatten, zwingt jeden Satz in eine | |
| unerhörte Gegenwart, hinter der der ganze beredte Rest verblasst. | |
| ## Die Wiederentdeckung der Gesellschaftskomödie | |
| Von einer ganz anderen Seite näherten sich drei Tage zuvor im Wiener | |
| Akademietheater René Pollesch, Martin Wuttke, Birgit Minichmayr und Ignaz | |
| Kirchner den Grenzen des Theaters. Für „Cavalcade or Being a holy motor“ | |
| lässt Bernd Neumann einen formatfüllenden Düsenjäger aus Sperrholz auf und | |
| ab schweben, schöne Fußnote zum barocken Wiener Ausstattungswahn. | |
| Währenddessen variieren die drei SpielerInnen über einen Text von Slavoj | |
| Žiźek die Frage, warum wir unser Triebziel greifbar vor Augen regelmäßig | |
| verfehlen und was eigentlich unser Begehren vorformatiert. | |
| Gleich dreifach kalauert Pollesch über Grundfesten des Betriebs. | |
| Kulturgüter wie das ortsfeste Ensemble, die Vorstellung, Theater sei ein | |
| Raum ästhetisch motivierter Entscheidungen jenseits eines Primats der | |
| Ökonomie und der Anspruch des jeweiligen Werkes auf Einzigartigkeit | |
| erweisen sich als ideologische Hülsen, die nur noch der kulturpolitischen | |
| Legitimation des Apparats dienen. | |
| Mit seinem Theater ist dieses Ad-hoc-Ensemble in erster Linie als | |
| Distributionsort verbunden. Die Arbeitsschwerpunkte der Beteiligten liegen | |
| überwiegend anderswo, Inhalte sind die Resultate der Personalkonstellation. | |
| Nicht zuletzt hat René Pollesch mit der Beschleunigung und Überschreibung | |
| theoretischer Diskurse durch das Theater ein Verfahren entwickelt, das in | |
| Serie erst zu seiner wirklichen Form gelangt. Mit „Cavalcade“ erlauben sie | |
| dem Publikum die unverhoffte Entdeckung eines totgeglaubtes Genres: eine | |
| Gesellschaftskomödie, durch die man etwas tatsächlich etwas über die | |
| Gesellschaft erfährt. | |
| 1 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Mattheiss | |
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