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# taz.de -- Osteuropa-Historiker über Putin: „Keine Politik ohne Raum“
> Karl Schlögel über Wladimir Putins Choreografien, russische Ressentiments
> und die unklare Haltung der deutschen Politik zu alldem.
Bild: Hat wieder mal eine große Choreografie entwickelt: Putin beim Treffen mi…
taz am wochenende: Herr Schlögel, was war Ihr Eindruck von Olaf Scholz’
Moskau-Besuch am Dienstag?
Karl Schlögel: Ich war gespannt. Die russische Seite hatte wieder mal eine
große Choreografie entwickelt. In diesem schwierigen Rahmen hat Olaf Scholz
eine ganz gute Figur gemacht.
Was meinen Sie mit „großer Choreografie“?
Nicht nur die Bilder des langen Tischs. An dem Tag des Besuchs gab es
mehrere Nachrichten, die nicht zufällig kamen. Da war die Meldung vom
angeblichen oder wirklichen Teilrückzug bestimmter Militärkräfte von der
ukrainischen Grenze. Gleichzeitig verabschiedet die Duma einen Beschluss,
die Gebiete in der Ostukraine mit den separatistischen Aufständen als
eigene Staaten anzuerkennen – und so ihre Abtrennung von der Ukraine
einzuleiten.
Das ist das Gegenteil von Entspannung.
Wladimir Putins Sprecher Dimitri Peskow kommentierte den Beschluss mit den
Worten, dieser bringe den Willen des russischen Volkes zum Ausdruck. Es ist
natürlich Teil der psychologischen Kriegsführung, zu signalisieren, dass
man jetzt bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Und es gehört ebenfalls zur
Choreografie, dass der Beschluss nun bei Putin liegt und er am Ende
entscheidet. Damit wird seine ungeheure Macht demonstriert: Wird der
Beschluss der Duma zur Staatspolitik – oder ist der Präsident so großzügig,
das abzuwehren und so der Diplomatie noch eine Chance zu geben?
Im Netz gibt es gerade viele Witze über Putins Tisch.
In russischen Zeitungen finden sich auch Karikaturen dazu. Zum Beispiel in
der Nowaja Gaseta, in der der Tisch in eine endlose Schlange überging. Ich
vermute aber, dass die Auftritte von Emmanuel Macron, Viktor Orbán oder
Olaf Scholz im Kreml beim russischen Fernsehpublikum großen Eindruck
hinterlassen. Die ganzen Regierungschefs kommen nach Moskau – auf die
Bühne, die Putin errichtet hat. Er beherrscht das Verfahren.
Der Aufmarsch von 130.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze hat sich für
ihn bereits ausgezahlt?
Ja, der Effekt der militärischen Drohung ist ja längst eingetreten. Es ist
Putin gelungen, wieder eine Situation zu produzieren, in der die ganze Welt
aufgeschreckt ist und nach Moskau blickt. Seine Forderungen werden ernst
genommen, man spricht über sein Ultimatum. Und zugleich haben der Aufmarsch
und der damit verbundene psychische Druck der Ukraine schon jetzt sehr
geschadet. In einem Land, das es schon schwer hat und sich irgendwie immer
wieder berappelt, werden Investoren abgeschreckt, Ausländer verlassen es,
der Austausch kommt zum Erliegen.
Hierzulande hat sich vor allem die SPD schwergetan, eine klare Haltung
einzunehmen.
Das ist aber nicht nur das Problem der SPD, sondern der deutschen
Befindlichkeit insgesamt. Es ist immer noch nicht so richtig angekommen,
dass die alte Welt mit ihrer klaren Ost-West-Teilung Vergangenheit ist. Und
dass die neue Welt offener und viel unsicherer ist. Ich vermisse eine
Debatte darüber, wohin unser Land da eigentlich will. Ist es beispielsweise
der Meinung und bereit, die Lebensform, die man sich aufgebaut hat, auch zu
verteidigen? Und was bedeutet dann Verteidigung, wenn diese in Gefahr ist?
In der Debatte heißt es oft, Russland handele so, weil es verletzt sei und
sich vom Westen bei der Nato-Osterweiterung über den Tisch gezogen fühle.
Vor allem die wohlmeinenden Freunde Putins benehmen sich oft wie
Psychotherapeuten. Also, je weicher und verständnisvoller man das
Putin-Regime anfasse, desto größer seien die Chancen auf ein friedliches
Miteinander. Was sie übersehen: Eine große Macht lässt sich nicht von außen
definieren, was sie macht und was sie unterlässt. Wir investieren viel zu
wenig Energie darein, die innere Mechanik Russlands besser zu begreifen.
Die verstehen wir nicht wirklich. Und weil man so wenig weiß, nimmt man zu
Projektionen Zuflucht. Das russische Verhalten wird nur als Reaktion auf
Aktionen des Westens erklärt, nicht als Handeln aus eigenem imperialen
Antrieb.
Das sei halt Geopolitik, hört man auch oft.
Die inflationäre Rede von der Geopolitik ist eigentlich nur ein Symptom
dafür, dass wir nicht wirklich wissen, wie Russland tickt. Ich kann mit
einigem Recht davon sprechen, weil ich als Historiker eigentlich mein
ganzes Leben lang für die Rehabilitierung des Raumes gekämpft habe. Dafür
bin ich oft angegriffen worden, weil das konservativ, reaktionär und
vielleicht noch Schlimmeres sei. Mir ging es eigentlich nur um eine
Selbstverständlichkeit, nämlich dass Geschichte eben nicht nur
chronologisch, in der Zeit, abläuft, sondern auch an Schauplätzen
stattfindet. Seit Putin redet man nun ständig von Geopolitik. So als hätte
es nicht auch eine des Kalten Krieges gegeben. Ja, es gibt überhaupt keine
Politik ohne den Raum, aber die entscheidende Frage ist: Mit welchem System
haben wir es zu tun, das diesen Raum neu gestaltet?
Was ist mit der Erklärung, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion als
Demütigung wahrgenommen wurde und Putin deshalb heute zu alter Größe
zurückstrebt?
Das Ende des Imperiums wurde von vielen Menschen als Katastrophe oder
Schock empfunden. Ich bin damals dort hin gereist und habe vor Ort gesehen,
was es bedeutet, wenn übergreifende Infrastrukturen und Institutionen
plötzlich zerfallen. Dass es zum Beispiel auf einmal neue Grenzen gibt.
Vielen Sowjetmenschen war nicht bewusst, dass es Grenzen gibt, weil sie in
dem Riesenreich nie an eine stießen. Sie hatten in der Regel keine
Auslandspässe. Im Bus von Litauen nach Kaliningrad habe ich 1991
Heulanfälle von Menschen erlebt, die plötzlich eine Grenze passierten, für
die sie keine Pässe hatten. Es war für viele eine demütigende Erfahrung,
das Scheitern eines Systems zu erleben. Die Frage ist, ob man einen Weg aus
dieser deprimierenden Erfahrung heraus findet – oder ob man jemanden sucht,
den man für alles verantwortlich machen kann.
Die russische Regierung sucht eher Schuldige.
Ich nenne das die Bewirtschaftung des Ressentiments. Es gibt eine neue
Generation von Medienleuten, die Karriere mit der Abrechnung mit den
chaotischen 90er Jahren machen. Und es werden immer neue
Bedrohungsszenarien produziert. Der Soziologe Lew Gudkow beschreibt das so:
Das Riesenland, das sich eigentlich neu aufstellen müsste, wird eher durch
Bedrohungs- und Feindbilder, durch negative Integration, zusammengehalten.
Man kennt das in allen autoritären und totalitären Regimen. Wenn man selber
keine positive Entwicklungsperspektive angeben kann, braucht es einen
gemeinsamen Feind. Deshalb wird den Russen immer wieder eingeredet, der
Westen bedrohe und demütige ihr Land.
Sie haben im Januar zusammen [1][mit anderen deutschen Osteuropa-Experten
einen Aufruf unterschrieben, der eine neue deutsche Russlandpolitik
fordert]. Die EU-Sanktionen nach der Annexion der Krim seien zu milde und
keine ausreichende Antwort auf die russische Aggression gewesen, heißt es
darin. Das habe die neuen Aggressionen erst ermutigt.
Die bisherige deutsche Russlandpolitik hat in den vergangenen Jahren nicht
wirklich zur Kenntnis genommen, dass Russland der militärische Gegner eines
mit uns befreundeten Landes ist. Lange hat man noch über
Modernisierungspartnerschaften geredet, dass die Verknüpfungen immer enger
werden müssen, aber die Situation der militärischen Bedrohung der Ukraine
wurde nicht ernst genommen. Eigentlich ist es ja großartig, wenn es viele
enge Verbindungen nach Russland gibt – nur in dieser Situation laufen all
diese Verbindungen Gefahr, instrumentalisiert und für destruktive Aktionen
benutzt zu werden. Ich unterstütze die Initiative für diesen Aufruf, weil
ich sicher bin, dass sich etwas ändern muss.
Was sind denn Ihre Erwartungen an die deutsche Russlandpolitik?
Es sind einfache Sachen wie: die Dinge beim Namen zu nennen. Dass man
Schluss macht mit der postmodernen Rede, dass es eigentlich keine Wahrheit,
sondern nur unterschiedliche Sichtweisen gebe. Und dass man sich
eingesteht, dass es Situationen gibt, in denen Politik und Diplomatie auch
erst einmal am Ende sind.
Was macht man dann?
Warten, warten, warten. Man darf sich nicht ins Bockshorn jagen und
erpressen lassen. Und man muss sich nicht die Tagesordnung diktieren lassen
von jemandem, der an den internationalen Regeln nicht interessiert ist. Was
das für unsereins bedeutet, die nicht in der Politik oder der Wirtschaft
tätig sind? Man richtet sich auf harte Zeiten ein, die man früher schon mal
kennengelernt hat: dass man kontrolliert wird, dass man bespitzelt wird,
dass man sich nicht einfach zu Konferenzen treffen kann. Wenn man kritisch
über Themen wie den Hitler-Stalin-Pakt spricht, ist das in Russland heute
ein Fall für Strafverfolgung. Wie sollen Historiker aber in einem Forum
zusammenarbeiten, in dem es untersagt ist, diese Fragen zu besprechen?
20 Feb 2022
## LINKS
[1] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/deutsche-russlandpolitik-korrek…
## AUTOREN
Jan Pfaff
## TAGS
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