# taz.de -- EU-Begeisterung in Osteuropa: Berlins Soft Power schmilzt | |
> Nicht nur in Kiew, auch in Tallinn, Prag und Warschau sind Fragen nach | |
> unserer kollektiven Sicherheit mit voller Wucht zurückgekehrt. | |
Bild: Bundeskanzler Scholz zu Besuch beim ukrainischen Präsidenten Selensky am… | |
In der Neuen Nationalgalerie in Berlin werden die Besucher von einer | |
riesigen Leinwand aus dem Jahr 1930 begrüßt. Ein paar Leute sitzen am Tisch | |
in müden Posen, die ihre Ansichten über die düstere Zukunft widerspiegeln. | |
Dieses ergreifende Bild, „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein zeigt | |
die Ungewissheit über das, was morgen bevorsteht – wie wir heute wissen, | |
war dies damals der unvermeidliche Krieg. | |
Die Stärke solcher Bilder liegt in ihrer Universalität. Heute herrscht eine | |
ähnliche Atmosphäre in Kiew. Die Bedrohung für Deutschland kam von innen, | |
während die für die [1][Ukraine] von außen kommt. Die Ungewissheit über die | |
Zukunft hängt schwer über dem Land. | |
Vor nicht allzu langer Zeit war das noch ganz anders. Als wir 2014 in | |
[2][Kiew] waren, hallte die Erinnerung an die Euromaidan-Proteste nach. Die | |
Atmosphäre in den Gesprächen mit den Ukrainern erinnerte an unser | |
Heimatland Polen in den 1990er Jahren: aufrichtige EU-Begeisterung, keine | |
Zweifel am eingeschlagenen Weg Richtung Westen. Kiew glänzte mit Idealen, | |
die in unserem Land 2014 bereits vom Euroskeptizismus verdorben waren. | |
Es gibt ein Paradox, das das vereinte Europa seit Jahren verfolgt. Während | |
diejenigen, die der EU beitreten wollen, von Euro-Enthusiasmus erfüllt | |
sind, beschweren sich die Mitglieder über die bürokratische Kälte in den | |
Brüsseler Fluren. Nehmen wir die Osterweiterung der EU. Als die Länder | |
Mittel- und Osteuropas sich langsam in die EU-Strukturen einlebten, lehnten | |
die Iren gerade den Vertrag von Lissabon ab. Während sich die Ukrainer | |
heute nach der EU sehnen, sind die Polen und Ungarn dabei, den europäischen | |
Rechtsstaat zu verlassen. | |
## Demokratien haben freie Wahlen, Diktatoren haben Zeit | |
Aber der Fall der Ukraine ist einzigartig. Zur Jahreswende 2013/2014, als | |
Wiktor Janukowitsch die proeuropäischen Proteste brutal niederschlug, waren | |
die Menschen bereit, ihr Leben für ein vereintes Europa zu opfern. Die | |
Ukrainer verdienen Respekt und Unterstützung für ihr Engagement. Dies ist | |
umso wichtiger, als die demokratischen Länder im Vergleich zu Russland eine | |
Schwäche haben. Während die Demokratien freie Wahlen haben, haben | |
Diktatoren Zeit, da sie an freie Wahlen nicht gebunden sind. Wladimir Putin | |
verfolgt geduldig sein ultimatives Ziel, die geopolitische Ordnung nach dem | |
Kalten Krieg aufzulösen und Russland, wie er es nennt, mit seiner | |
Einflusssphäre zu umgeben. | |
Nicht nur in Kiew, sondern auch in [3][Tallinn,] Prag und Warschau sind | |
heute die Fragen nach unserer kollektiven Sicherheit mit voller Wucht | |
zurückgekehrt. Im Gegensatz zur Ukraine sind diese Länder Mitglieder der EU | |
und der Nato, aber trotzdem sind die Ängste groß. In Estland haben die | |
Kinder in den Schulen jetzt ein neues Fach: Desinformation im Internet. | |
Schwerpunkt: die Aktivitäten Russlands. In der Region sind noch immer die | |
Erinnerungen lebendig an eine traumatische Vergangenheit, in der Russland | |
der Aggressor war. Die wichtigste dieser Befürchtungen lässt sich in einem | |
kurzen Satz zusammenfassen: Der Westen wird uns wieder im Stich lassen. | |
Das Verhalten Deutschlands hat in dieser Hinsicht besondere Beachtung | |
gefunden. Nach 1989 hat Berlin große Anstrengungen unternommen, sich in den | |
ehemaligen postkommunistischen Ländern ein positives Image zu geben: Gesten | |
der Versöhnung, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Studentenaustauschprogramme | |
– all dies führte zu einer neuen „Soft Power“ Deutschlands. Die heutige | |
Krise wurde also schnell zu einem Vertrauensproblem mit Berlin. Anfang 2022 | |
droht diese mühsam aufgebaute Soft Power zu schmelzen. In erster Linie | |
könnte dies in Kiew geschehen. | |
19 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Karolina Wigura | |
Jaroslaw Kuisz | |
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