# taz.de -- Sicherheitsexperte über Energiepolitik: „Russland mangelt es nic… | |
> Der estländische Verteidigungsexperte Kalev Stoicescu erklärt, wie und | |
> warum Europa sich von russischem Gas unabhängig machen sollte. | |
Bild: Geschäft mit Gas: Deutschlands Wirtschaft ist von russischen Energielief… | |
taz: Herr Stoicescu, Estland will [1][Waffen aus DDR-Beständen] an die | |
Ukraine liefern, um Kiew angesichts einer drohenden Aggression aus Russland | |
zu unterstützen. Dafür braucht die Regierung eine Erlaubnis aus Berlin. | |
Doch Deutschland lehnt das bisher ab. Wie schätzen Sie diese Entscheidung | |
ein? | |
Kalev Stoicescu: Ich sehe das kritisch. Deutschland verfolgt seit | |
Jahrzehnten eine Politik des Verzichts auf Waffenlieferungen in | |
Kriegsgebiete. Das ist die offizielle Begründung. Im Fall Israels sind wir | |
Zeugen einer anderen deutschen Politik, wenn es um Waffenexporte geht. | |
Im Fall der Ukraine argumentiert die Bundesregierung mit ihrer besonderen | |
historischen Verantwortung … | |
Diese hat Deutschland zweifellos gegenüber Russland. Wenn Berlin jedoch von | |
dieser Schuld redet, ist für uns in den baltischen Staaten unklar, warum | |
diese Schuld sich ausschließlich auf Russland bezieht. Tatsächlich wurden | |
die schrecklichsten Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs auf dem | |
Territorium der Ukraine begangen. Dort waren die meisten Opfer zu beklagen. | |
Wo bleibt da die deutsche Verantwortung gegenüber der Ukraine? | |
Welche Rolle spielt die Energiepolitik in der Ukrainekrise? | |
Die deutsche Wirtschaft hängt maßgeblich von russischen Energielieferungen | |
ab. In diese Abhängigkeit hat sich die Bundesregierung selbst begeben. Die | |
Regierungen unter Angela Merkel haben immer wieder betont, dass die | |
Pipeline Nord Stream 2 ein reines Wirtschaftsprojekt und nicht mit | |
Geopolitik verbunden sei. Doch aktuell sehen wir glasklar, dass [2][Nord | |
Stream 2] als eine wichtige Waffe in den Händen Russlands gegen Europa | |
dient. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir über andere Möglichkeiten | |
nachdenken. Zum Beispiel Flüssiggas nach Europa bringen. Eine andere Quelle | |
könnte Atomkraft sein, dem steht jedoch Deutschlands Entscheidung entgegen, | |
aus der Atomkraft auszusteigen. Das halte ich übrigens nicht für eine | |
angemessene Politik. Die aktuelle Konfrontation mit Russland ist ein Beweis | |
dafür. | |
Was meinen Sie damit konkret? | |
Wenn Russland tatsächlich in der Ukraine einmarschiert und zu dem | |
achtjährigen Krieg in der Ostukraine eine weitere Katastrophe hinzukommt, | |
könnte eines der Hauptszenarien sein, dass Russland sich weigert, Gas nach | |
Europa, einschließlich Deutschland, zu liefern. Wir in der EU sind es doch, | |
die den Kreml füttern. Russland verdient an uns, indem wir Gas kaufen. Wenn | |
die EU dann Sanktionen verhängt, laufen die ins Leere. In Russland mangelt | |
es nicht an Geld. | |
Was könnten Alternativen zu russischen Energielieferungen sein? | |
Die baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland sind mit Russland und | |
Belarus durch das Brell-Abkommen verbunden und dabei, aus dieser alten | |
Strominfrastruktur auszusteigen. Das heißt: Stromlieferungen aus Russland | |
[3][und Belarus] aufzugeben und sich an das Stromsystem der EU anschließen. | |
Außerdem gehört Estland weltweit zu den Ländern, die reich an Ölschiefer | |
sind. Wir haben früher sogar Strom, der aus Ölschiefer gewonnen wurde, | |
exportiert. Heute kann [4][Ölschiefer das Baltikum] unabhängiger von | |
ausländischen Energielieferungen machen. Jedoch fängt die estnische | |
Regierung gerade damit an, auf die Verbrennung von Ölschiefer in ihren | |
Kraftwerken zu verzichten – aus klimapolitischen Gründen. Auf Wind- und | |
Sonnenenergie kann Estland nicht alleine setzen. [5][Mini-Atomkraftwerke] | |
können eine langfristige Lösung sein, da sie sicherer als herkömmliche | |
Atomkraftwerke sind. Doch von der Idee, ein Mini-Atomkraftwerk zu bauen, | |
ist die estnische Regierung leider weit entfernt. | |
Und wenn die Russen das Gas abdrehen? | |
Wir werden uns nicht in die Knie zwingen lassen. Jedoch werden viele | |
estnische Unternehmen Schwierigkeiten bekommen. Vor allem werden die | |
Menschen betroffen sein, unter anderem Zehntausende Russ:innen in Narva | |
im Nordosten Estlands, direkt an der russischen Grenze. Ich bin gespannt, | |
was mit diesen Leuten passiert, wenn Moskau das Gas abdreht. Müssen sie | |
frieren und hungern? | |
Wollen Sie damit sagen, dass Tallinn die russisch-stämmigen Menschen, die | |
etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, als politisches Druckmittel | |
gegen die Moskauer Gaspolitik einsetzen könnte? | |
Nein. Ich will nur darauf hinweisen, dass diese Menschen an der Grenze | |
zuallererst betroffen sein werden, und sie sind nun mal ethnische | |
Russ:innen. Moskau hatte das bereits 1990 versucht und die Gaslieferungen | |
gestoppt. Doch nach ein paar Tagen wurden die Lieferungen wieder | |
aufgenommen. | |
Fühlen sich die baltischen Staaten von Russland bedroht? | |
Eine weitere militärische Auseinandersetzung in der Ukraine könnte auch zu | |
einer Destabilisierung im Baltikum führen. Russland ist ein Provokateur. | |
Die Unterstützung der baltischen Staaten für die Ukraine könnte Moskau als | |
Vorwand dienen, auch im Baltikum einzugreifen, in welcher Form auch immer. | |
Es ist nichts Neues, dass es zu Russlands langfristigen Zielen gehört, die | |
Nato im Baltikum zu schwächen. | |
Droht Ihrer Meinung nach ein militärischer Angriff Russlands auf die | |
Ukraine? | |
Nehmen wir an, Russland besetzt [6][Charkow] oder andere Regionen, die im | |
Vergleich zur Krim keine strategische Bedeutung haben. Was bringt das? Dann | |
muss Russland die ganze Ukraine besetzen, und das halte ich doch für sehr | |
unwahrscheinlich. Ich bezweifle sehr, dass es einen solchen Krieg geben | |
wird. Falls doch, wäre es Putins letzte Option – so, als ob er seine | |
Rolexuhr als finalen Einsatz in diesem Pokerspiel auf den Tisch legen | |
würde. | |
Wie erklären Sie dann Russlands Verhalten? | |
Selbst in seinen schlimmsten Träumen kann sich niemand im Westen einen | |
Krieg gegen die Atommacht Russland vorstellen. Und das will auch keiner. | |
Russland sagt, ein Beitritt der Ukraine zur Nato bereite ihm Sorge. Doch | |
das ist ein Scheinargument. In Wahrheit hat Russland Angst vor der | |
Demokratie. Russland möchte sich, wie im Kalten Krieg, mit | |
nichtdemokratischen Ländern oder Ländern umgeben, die es unter Kontrolle | |
hat. Damit würde der Kreml dann auch vor den sogenannten Farbrevolutionen | |
sicher sein. | |
16 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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