# taz.de -- Ukraine-Krieg als Zäsur: Zeitenwende | |
> Die politische Kernschmelze in Moskau ist ein tiefgreifender Einschnitt. | |
> Eine veränderte Ostpolitik war seit Jahren überfällig. | |
Bild: Man hat sich von ihm täuschen lassen: Für Wladimir Putin wurde in Berli… | |
Seit Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag die Maske fallen ließ, | |
war klar: Der Krieg ist nicht mehr aufzuhalten. Man hat sich systematisch | |
täuschen lassen. Den Mahnern, die seit Jahren für eine Kehrtwende in der | |
Ostpolitik kämpften, gab man keine Chance. Entspannung first. Bloß keinen | |
Konflikt mit Russland. Jetzt ist nicht nur die europäische Friedensordnung | |
Geschichte. Der Krieg in der Ukraine wird alles auf den Kopf stellen. | |
Unabhängig von dem Albtraum, der nicht nur die Ukraine betreffen wird, | |
bleibt die Frage, warum eine effektivere Strategie gegen Putins | |
Eskalationsdominanz nie eine Chance bekommen hat. Spätestens seit Putins | |
Geschichtsessay im Juni 2021 warnen Experten vor seiner [1][zerstörerischen | |
Ukraine-Politik]. In jenem Text zog der russische Präsident offen die | |
Eigenstaatlichkeit der Ukraine in Zweifel und subsumierte sie zusammen mit | |
Belarus unter das Dach Russlands. | |
Der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel hat auf die fatale | |
Verbindung politischer und historischer [2][Ziele des Kremls hingewiesen]: | |
„Auf Basis dieser – nicht akzeptablen und falschen – Interpretation der | |
Geschichte könnte er versuchen, Annexionen zu legitimieren. Putin könnte | |
dabei in einem Geschichtsverständnis gefangen sein, in dem er einen | |
möglichen Krieg gegen die Ukraine als interne Angelegenheit betrachtet.“ | |
Reihenweise ist man auf Russlands Behauptung hereingefallen, es ginge nur | |
um die Osterweiterung der Nato sowie den Beitritt der Ukraine. Es ging | |
Putin um mehr. Seit 2014 stand die Angst des russischen Präsidenten vor | |
demokratischen Prozessen im Raum, wie der estnische Sicherheitsexperte | |
Kalev Stoicescu betonte: „Russland möchte sich, wie im Kalten Krieg, mit | |
nichtdemokratischen Ländern oder Ländern umgeben, die es unter Kontrolle | |
hat.“ Die Ukraine spielt im Transformationsprozess der postsowjetischen | |
Länder eine Sonderrolle. | |
## Psychologische Kriegsführung gegen die Ukraine | |
Neben den baltischen Ländern ist sie das Land, das sich am ehesten zu einer | |
demokratischen Struktur und dem Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen | |
verpflichtet hat. In Russland fragen sich die Bürger, warum ihnen solche | |
Errungenschaften vorenthalten werden. Putin konnte eine erfolgreiche | |
Ukraine nicht dulden. Es ist ein Manko der deutschen Öffentlichkeit, dass | |
die hybride Kriegsführung mit Hackerangriffen und gezielten | |
Desinformationskampagnen über Jahre nicht recht ernst genommen wurde. | |
Die psychologische Kriegsführung gegen die Ukraine mit anonymen | |
Bombendrohungen gegen Schulen nahm kontinuierlich zu. Über [3][1.000 | |
Schulen wurden im letzten Jahr systematisch im ganzen Land bedroht.] Aber | |
auch aus dem Hacker-Angriff auf den Deutschen Bundestag zog man keine | |
klaren Konsequenzen. Hinter dem Mantra, Diplomatie sei besser als Krieg, | |
verbarg sich von Anfang an eine Unentschlossenheit. Die Debatte um | |
Waffenlieferungen hatte etwas Hilfloses. Der Bezug zur Geschichte | |
Deutschlands, um die hartnäckige Weigerung der Bundesregierung zu | |
begründen, war von Anfang an eine feige Ausrede. | |
Unsere Nachbarn rieben sich die Augen. Erst hatte man im Zweiten Weltkrieg | |
die Ukraine zerstört, Millionen Zwangsarbeiter versklavt, und jetzt schaut | |
man zu, wie sich erneut die Friedhöfe füllen. Ein polnischer Witz sagt, | |
dass die Deutschen, wenn es ernst wird, lieber eine Kerze ins Fenster | |
stellen, als ernsthaft am Überleben beziehungsweise der Verteidigung der | |
Opfer interessiert zu sein. Das Grundproblem ist aber ein anderes. Seit | |
Jahren hat man sich von Seiten der Bundesregierung gescheut, | |
[4][wirkungsvollere Hebel] in die Hand zu nehmen. | |
Zu lange hat die Große Koalition auf ein fortgesetztes Konzept der | |
Einhegung Russlands gesetzt und den wirtschaftlichen Profit im | |
Russlandgeschäft nicht gefährden wollen. Diese Politik [5][gilt seit Langem | |
als gescheitert]. Die mühselige und im Ausland nicht nachvollziehbare | |
Debatte um Nord Stream 2 war blamabel. Die bequeme deutsche Äquidistanz zu | |
den Konfliktparteien sowie das Primat der Wirtschaftsinteressen kam als | |
Zeichen der Unterstützung Moskaus an. | |
## Knackpunkt in Europa: Mittelstreckenraketen | |
Containment und Kooperation ist immer die Basis gelingender | |
Sicherheitspolitik. Was die Kooperation betrifft, hätte es tatsächlich viel | |
zu verhandeln gegeben. Wenig Aufmerksamkeit bekamen beispielsweise die | |
Wiener Dokumente, deren Schlupflöcher den Missbrauch von Großmanövern | |
erlaubten. Die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen Russlands | |
westlich des Urals bleibt ungeklärt. Nicht zuletzt mit Blick auf die Jahre | |
nach der Amtszeit Joe Bidens könnte dies noch ein Knackpunkt in Europa | |
werden. | |
Schon jetzt stehen russische Nuklearraketen mit Reichweiten bis Warschau | |
und Berlin (und vermutlich auch Paris) in Kaliningrad an der Ostsee. Auch | |
innerhalb der EU gab es Klärungsbedarf, worauf der Osteuropa-Experte | |
Wilfried Jilge [6][seit Langem hinweist]: Es gibt keine Antwort auf das | |
russische Dominanzstreben im Schwarzen Meer. Ein besseres Containment kommt | |
zu spät. Dabei geht es nicht nur um Verteidigungsfragen. Über Jahre wollte | |
man keine effizienteren Sanktionen in Deutschland und der EU beschließen. | |
Das Mantra der Diplomatie ohne Vorbedingungen war die Blaupause, auf der | |
Putin seine Planung ausbauen konnte. Man hat nicht auf die gehört, die | |
stärkere Druckmittel in Verbindung mit Diplomatie gefordert haben. | |
Gewaltakte und Missachtungen ohne Sanktionen ermutigen Wiederholungstäter. | |
Die Sanktionsschraube hätte fester gedreht werden müssen nach einer | |
wirkungsvollen Phase 2015. Sanktionen haben sehr wohl ihre Wirkung, wie der | |
Russlandexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Janis Kluge, immer | |
wieder erklärte. | |
Und man hat die russischen Okkupationen in Transnistrien und Abchasien | |
nicht [7][in einem Grundmuster mit der Ukraine sehen wollen]. Welche | |
weitreichenden Konsequenzen der Krieg in der Ukraine haben wird, ist | |
unabsehbar. Aber es ist klar, dass wie 2001 längst eine Zeitenwende | |
stattgefunden hat. Wir haben sie bloß nicht rechtzeitig wahrhaben wollen. | |
25 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/7/revisionismus-und-drohungen/ | |
[2] https://www.lmu.de/de/newsroom/newsuebersicht/news/interview-zur-ukraine-kr… | |
[3] https://www.rferl.org/a/urkaine-bomb-scares-russia/31672638.html | |
[4] https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A69_DeutschUkr… | |
[5] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-3004/html | |
[6] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/antago… | |
[7] https://www.bpb.de/veranstaltungen/veranstaltungskalender/505112/russland-k… | |
## AUTOREN | |
Marcus Welsch | |
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