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# taz.de -- Deutschlands Fehleinschätzung von Putin: Illusion und Scham
> Deutschland hat Putin falsch eingeschätzt. Balten, Polen und Ukrainer
> lagen dagegen richtig in ihrem Sicherheitsbedürfnis. Es bleibt
> Hilflosigkeit.
Bild: Putin in Berlin im Januar 2020; Deutschland hat ihn offensichtlich falsch…
Wir lagen falsch. Weite Teile der politischen Linken in Deutschland hingen
bis zuletzt einer Illusion an. Und nicht nur sie; im Grunde basierte auf
diesem Wunschdenken auch das Regierungshandeln der letzten Jahre. Die
Fehlannahme in Kurzform: Putin ist zwar ein Autokrat und sein Handeln nicht
legitim, er lässt sich aber einhegen durch geduldige Gespräche,
wirtschaftliche Verflechtungen und Zurückhaltung in der russischen
Nachbarschaft. Die Nato-Osterweiterungen waren demnach entweder
grundsätzlich ein Fehler oder durften zumindest nicht fortgeführt werden.
Provoziert nicht den Kreml!
Die beschämende Erkenntnis: Das war nie der Punkt. Wladimir Putin
demonstriert heute in der Ukraine einen Imperialismus ohne Skrupel. Als
Reaktion auf eine gefühlte Einkreisung durch die Nato lässt sich das nicht
mehr erklären. Eine europäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung
Russlands hätte tatsächlich keine Sicherheit gebracht gegen eine russische
Regierung, die die Einverleibung ehemaliger Sowjetstaaten anstrebt.
Balten, Polen, Ukrainer, wegen eines vermeintlich übertriebenen
Sicherheitsbedürfnisses lange als paranoid belächelt, lagen dagegen
richtig. Stand jetzt war Abschreckung erfolgreicher als Angebote. Die
osteuropäischen Nato-Länder haben Frieden, die [1][Ukraine] hat Krieg.
Nun wäre es gefährlich, am Tag des Kriegsbeginns im Schockzustand alle
Überzeugungen abzuwerfen. In Abwesenheit einer Glaskugel war
Gesprächsdiplomatie löblich und die Geschichte kennt Beispiele, in denen
Entspannungspolitik Katastrophen verhindert hat. Verbohrt wäre es
allerdings, angesichts der neuen Wirklichkeit die alten Gewissheiten nicht
zu hinterfragen.
Hätte der Westen der Ukraine nicht in der Vergangenheit zur Seite stehen
müssen? Vielleicht lag ausgerechnet George W. Bush richtig, der anderswo
selbst ungerechte Kriege führte. Er wollte 2008 den Nato-Beitritt der
Ukraine, Deutschland hat gebremst. Dabei gab es ein Zeitfenster dafür:
Russland wäre damals noch zu schwach gewesen, um den Beitritt militärisch
zu verhindern. Vor einem Angriff im Jahr 2022 hätte der Nato-Schutzschirm
die Ukraine dann wohl bewahrt.
Nachholen lässt sich das Versäumnis nicht. Entschiede sich [2][der Westen]
jetzt dazu, der Ukraine militärisch beizustehen, würde der Krieg weit über
die Region hinaus eskalieren. Atombomben auf Berlin, was für ein
wahnsinniger Satz, wären ein realistisches Szenario.
Vielleicht wären auch [3][Waffenlieferungen] richtig gewesen, nicht spontan
in der Krise, sondern schon nach 2014. Militärisch hätte der Westen die
Ukraine zwar niemals ausreichend aufrüsten können, um das Land auf
Augenhöhe mit Russland zu bringen. Mit einer anständigen Flugabwehr hätte
er sie aber zumindest ausstatten können. Auslieferung, Ausbildung und
Inbetriebnahme hätten Jahre gedauert. Mit genügend Vorlaufzeit wären die
Kosten des Angriffs, der wie erwartet mit Luftangriffen begann, so
allerdings gestiegen. Um das entscheidende Maß?
Hätte, wenn und wäre: Wir werden es nicht erfahren. In der aktuellen
Situation werden Waffenlieferungen das Blatt auf jeden Fall nicht mehr
wenden, es sei denn, man legt es auf einen langen und blutigen
Partisanenkrieg an. Und Sanktionen, selbst wenn sie maximal verheerend
ausfallen, sind zwar wichtig, um der totalen Selbstaufgabe zu entgehen. Es
sollte aber auch niemand darauf bauen, dass sie den Krieg beenden. Und
damit sind wir an dem Punkt, der die Scham so groß macht: Infolge der
Fehleinschätzung stehen wir machtlos da. Verletzte aufnehmen, Hilfsgüter
senden, die Grenzen offen lassen – klar, muss alles sein. Darüber hinaus
bleibt aber wenig zu tun. Wir müssen die Ukraine im Stich lassen.
Vorbeugung ist jetzt nur noch für die eigene Sicherheit möglich, für
Deutschland und seine direkten Partner. Dabei geht es einerseits um zivile
Maßnahmen, zum Beispiel bei der Energieversorgung. Das ist noch so ein
Bereich, in dem sich die Versäumnisse der Vergangenheit rächen; dass die
Energiewende in Deutschland verschleppt wurde, dass Gaslieferungen vor
allem aus Russland kommen und dass Gasspeicher an Gazprom verkauft wurden.
Die Abhängigkeit macht uns verwundbar. Korrekturen brauchen Zeit, umso
schneller müssen sie beginnen.
Bei der eigenen Sicherheit geht es aber natürlich auch um militärische
Fragen, die ab jetzt unter ganz neuen Annahmen im Raum stehen. Reichen
unsere Verteidigungsausgaben wirklich aus? Sollten mehr Truppen in die
Nachbarländer im Osten? Müssten Schweden und Finnland nicht jetzt noch
schnell in die Nato? Grundsätze geraten heute ins Wanken. Was für ein
beschissener Donnerstag.
24 Feb 2022
## LINKS
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[3] /Gruenen-Chef-Nouripour-zur-Ukraine/!5837259
## AUTOREN
Tobias Schulze
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Janine Wissler
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