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# taz.de -- Ukraine-Krieg: Das große Versagen
> Meine Generation ist die der Baerbocks, Klingbeils und Lindners – der
> Geschmeidigen. Von großen Krisen wie dem Ukraine-Krieg sind wir
> überfordert.
Bild: Annalena Baerbock im ZDF-Interview
„Das Allerwichtigste ist, dass es nie wieder Krieg in Europa gibt“, sagte
Annalena Baerbock Ende Januar in einem Interview. „Und genau das ist die
Verantwortung meiner Generation, die das Glück hatte, in Frieden
aufzuwachsen“, führte sie weiter aus. Seit Donnerstag dieser Woche ist das
Allerwichtigste gescheitert. Unsere Generation, die [1][Generation von
Baerbock,] Lars Klingbeil, Christian Lindner und auch von mir, die wir den
Frieden als Normalität kennenlernten, ist dieser Verantwortung nicht
gerecht geworden. Hatten wir je eine Chance?
Sicher hatten wir sie nicht gegen einen zu allem bereiten russischen
Präsidenten, der mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und seiner
Androhung historischer Zerstörung, sollte jemand dem Land zu Hilfe kommen,
die Nachkriegsordnung Europas beendet hat. Keine diplomatische Bemühung der
letzten Wochen hat ihn von seinem Kurs abbringen können. Was aber kann dann
noch die Verantwortung meiner Generation sein?
Wir sind die Generation, die nach den tiefen politischen Grabenkämpfen und
der Drohkulisse des Kalten Kriegs erwachsen wurde. Wir wurden politisiert
in den neunziger Jahren, in denen im Westen der optimistische Glaube
vorherrschte, Demokratie, Wohlstand und Frieden würden nun immer weiter
wachsen. Die großen Bedrohungen schienen vorüber, die Wolke von Tschernobyl
gehörte so sehr den achtziger Jahren an wie die Drohung der Atombombe.
Dabei war die Welt der neunziger Jahre alles andere als nur friedlich. Mit
dem zweiten Golfkrieg begann das Jahrzehnt, einige Jahre später geschahen
in Ruanda und Srebrenica Völkermorde, und auch in Deutschland gab es
Gewalt: Anschläge auf Asylbewerberheime, Neonazis zeigten offen ihre
Aggression. Das Land wuchs zusammen, aber es verwandelte sich nicht für
alle in die blühenden Landschaften, die Kanzler Kohl versprochen hatte.
## 9/11 beendete die Partylaune
Doch erst 9/11 beendete die Partylaune, die neben alldem das Bild geprägt
hatte. Eine wenig politische, dafür umso geschmeidigere Generation sah sich
von der Komplexität der Ereignisse überfordert, und ein Rückzug ins Private
war in den folgenden Jahren in gewissem Sinne für viele die logische
Konsequenz. [2][Die Geschmeidigen] kümmerten sich lieber um das eigene
Vorankommen und ihr häusliches Glück als um eine bessere Gesellschaft.
Seit Donnerstag scheint die Zeit zurückgedreht. Die Atombombe ist als reale
Bedrohung wieder da. Die Ruine von Tschernobyl, ein bis heute gefährliches
AKW-Wrack aus Sowjetzeiten, sei unter russischer Kontrolle, war zu lesen.
Und im Kreml diktiert ein Mann den Lauf der Geschichte, mindestens der
Gegenwart, dessen Denken von der Logik des Kalten Krieges bis heute
bestimmt scheint und dem die neunziger Jahre und das Ende des Sowjetreichs
nicht als Hoffnung, sondern als schlimmste Schmach gelten.
Wer nun glaubt, der Kalte Krieg sei zurück, der irrt. Schon der
Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt den Vergleich nicht mehr zu. Die
aktuelle Kriegsführung wurde zudem über Jahre mit digitalen
Desinformationskampagnen vorbereitet, die auf eine Destabilisierung Europas
und der demokratischen Gesellschaft abzielten.
Sie trifft ein von zwei Jahren Pandemie erschöpftes Europa. Sie trifft aber
auch ein Europa, in dem viele Menschen des ehemaligen Ostblocks Jahrzehnte
in demokratischer Freiheit erlebt haben. Ein Europa, das auch im Westen
keine Grenze wie den Eisernen Vorhang mehr zu akzeptieren gewillt ist. Das
lässt sich nicht mehr zurückdrehen, auch wenn der russische Präsident auf
die Logiken der Achtziger zu setzen scheint.
Meine Generation mag im zu naiven Glauben an eine zu heile Welt
aufgewachsen sein. Sie hat aber dadurch auch ein Selbstbewusstsein
entwickelt, das auf den Freiheiten der Demokratie besteht. Nicht nur für
sich, sondern mindestens als frei zu wählendes Versprechen auch für andere.
Sie hat eine Art Urvertrauen erfahren, dass selbst die tiefsten politischen
Feindschaften beigelegt werden können. Das kann in der aktuellen Situation
ein großes Pfund sein, wenn es mit einer scharfen Analyse der
sicherheitspolitischen Lage einhergeht.
## In den großen Krisen versagt?
Und noch etwas: Meine Generation hat sich bislang mit dem Vorwurf
konfrontiert gesehen, in den großen Krisen versagt zu haben. Wir waren
bislang oft still, vielleicht angepasst. Für die friedliche Demonstration
in Ostdeutschland Ende der Achtziger waren wir zu jung, und anders als die
wütend demonstrierende Klimajugend haben wir uns nicht aufgelehnt gegen die
viel zu zaghaften politischen Bemühungen, die die andere große Krise
unserer Gegenwart, die Klimakatastrophe, begleitete.
„Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für
das, was wir nicht tun.“ Dieser Satz von Molière steht auf der Seite von
Fridays for Future, und er liest sich als Vorwurf der Jüngeren an meine
Generation, die zwischen den 68ern und der Klimajugend steht und nie durch
deutlichen politischen Protest oder beharrliches Engagement aufgefallen
ist. Uns sind vielleicht keine aktiven Vergehen vorzuwerfen, wohl aber
unterlassene Hilfeleistung – so sehen es zumindest die jüngeren
Klimaaktivisten.
Umwelt hätte eigentlich genau das Thema für meine Generation sein können,
jenseits militärischer Aggression und politischer Dogmen, jenseits des
Kampfs des einen Systems gegen das andere. Doch es gelang uns nicht, dieses
Thema wirklich groß und mit nötiger Dringlichkeit zu addressieren.
Blättere ich im Greenpeace-Jahresbericht aus dem Jahr 2000, aus der Zeit,
als ich für Greenpeace-Aktionen nach Rostock und Hamburg fuhr, gilt der
Klimawandel als eines von „anderen wichtigen Umweltthemen“ und wurde wohl
auch wegen der ausbleibenden Protesterfolge weniger hoch gesetzt als etwa
die Gentechnik, gegen die man damals immerhin noch Teilerfolge errang.
Umwelt, das klang viel zu weich, eher nach einem Hobby für Kinder, die gern
Kröten über die Straße trugen. Die großen Probleme trugen härtere Namen:
Neben dem Terror, der seit September 2001 die politische Agenda
beherrschte, schafften es in den Folgejahren noch Wirtschaft, Naher Osten
und Autoritarismus auf die Krisenagenda. Lieber nicht einmischen, war für
viele die Losung.
## „Skolstrejk för Klimatet“
Auch ich ließ während meines Studiums mein Engagement bei Greenpeace immer
weiter schleifen, bis ich es irgendwann ganz aufgab. Ich konzentrierte mich
auf Dinge, die mehr Aussicht auf Erfolg hatten. Darin entsprach ich der
aktivistischen Mutlosigkeit meiner Generation.
Mit dem einfachsten aller Protestmittel, einer Pappkarte mit der Aufschrift
„SKOLSTREJK FÖR KLIMATET“, besetzte 2018 die Schülerin Greta Thunberg das
Umweltthema neu und bewies uns allen, dass man etwas bewegen kann, wenn man
die Sache ernst genug nimmt. Mit ihren noch kindlichen Zügen und einer
beispiellosen Beharrlichkeit gab sie der Bedrohung der Klimazerstörung ein
Gesicht. Sie zeigte gerade uns aber auch, dass man es eben auch anders
machen kann. Dass es in der Gegenwart Themen gibt, für die man kämpfen kann
und muss. Dass privates Glück schön und gut ist, aber auch ignorant sein
kann.
Es gibt einen Menschen aus meiner Generation, der aktuell im Mittelpunkt
der politischen Ereignisse steht. [3][Das ist der ukrainische Präsident
Wolodimir Selenski. Er wurde einen Monat vor dem Kriegsbeginn in seinem
Land 44 Jahre alt.]
Auf der diesjährigen [4][Münchner Sicherheitskonferenz] hat er eine
brennende Rede gehalten. „Es ist Ihr Gewissen, mit dem Sie leben müssen“,
sagte er den anwesenden Vertretern der westlichen Länder. Er wurde
beklatscht. Klatschen, das erinnern wir noch aus dem ersten Jahr der
Coronapandemie, als die Pflegekräfte damit gewürdigt wurden, kann eine Form
des höflichen Wegnickens sein.
Das [5][Minsker Abkommen] und der Weg der Diplomatie, auch der
streckenweise mutlose Kurs der Bundesregierung sind gescheitert. Als der
ukrainische Botschafter im Januar noch an die historische Verantwortung der
Bundesrepublik gegenüber seinem Land appellierte, antwortete die deutsche
Außenministerin, diese Verantwortung trage Deutschland gegenüber allen
Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Es war eine heikle Situation, in der sich Deutschland bemühte, die Türen
der Diplomatie nicht zuzuschlagen. Russland und die Ukraine in einen Topf
zu werfen in einem Moment, in dem Russland bereits eine düstere
militärische Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine vor den Augen aller
aufbaute, war allerdings auch da schon befremdlich.
Umso mehr, wenn es um die historische Verantwortung gegenüber einem Land
geht, das vor der nationalsozialistischen Vernichtung bereits unter dem
sowjetischen Holodomor gelitten hatte, einer provozierten
Hungerkatastrophe, der Schätzungen zufolge bis zu sieben Millionen Menschen
zum Opfer fielen.
Den Krieg in Europa zu verhindern, das ist die Verantwortung meiner
Generation, die das Glück hatte, in Frieden aufzuwachsen. Das ist uns nicht
gelungen. So wenig, wie es uns gelungen ist, die Klimakatastrophe
rechtzeitig zu adressieren. Was ist jetzt von unserer Verantwortung übrig?
Nicht viel und eine Menge. Sie kann sich nicht in Klatschen erschöpfen oder
darin, in den sozialen Medien die ukrainische Flagge zu posten.
Unsere Generation muss zu einer genuin politischen Haltung finden, die die
Demokratie so stark macht, das sie nicht vor Putins militärischer
Aggression in die Knie geht. Das Versprechen einer friedlichen Welt, mit
dem wir aufgewachsen sind, muss dabei unsere Verpflichtung und unser Ziel
sein.
26 Feb 2022
## LINKS
[1] http://funkkultur.de/bossong-krieg-ukraine-102.html
[2] https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/die-geschmeidigen-97835…
[3] /Rede-des-ukrainischen-Praesidenten/!5834186
[4] /Sicherheitskonferenz-in-Muenchen/!5833592
[5] /Macron-Besuch-in-Moskau-und-Kiew/!5831770
## AUTOREN
Nora Bossong
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