# taz.de -- Literatur und Unterdrückung: Diktatur, wie geht das? | |
> Die Literaturnobelpreisträgerinnen Herta Müller und Swetlana | |
> Alexijewitsch sprachen miteinander über bittere Erfahrungen in Rumänien | |
> und Belarus. | |
Bild: Swetlana Alexijewitsch (links) und Herta Müller im Gespräch | |
Mit den beiden Literaturnobelpreisträgerinnen [1][Swetlana Alexijewitsch] | |
und [2][Herta Müller] gehörte die Bühne des Berliner Gorki-Theaters am | |
Donnerstagabend zwei ganz Großen der schreibenden Zunft. Ein | |
Gedankenaustausch zu dem Thema Re:writing the Future lautete der | |
Arbeitsauftrag. Diese Formel beschreibt den Versuch, Rückschau und | |
Erinnerung für die Gestaltung einer anderen, besseren Zukunft fruchtbar zu | |
machen. | |
Die Diskussion fand im Rahmen des viertägigen digitalen Festivals über | |
Kunstfreiheit, kulturelle Resilienz und internationale Solidarität statt, | |
das die Allianz Kulturstiftung derzeit in Berlin veranstaltet. Gerade | |
Solidarität gewinnt zunehmend an Bedeutung angesichts wachsender | |
autoritärer Tendenzen weltweit, die die offene Gesellschaft, ja die | |
Demokratie in Gänze bedrohen. | |
Die Belarussin Swetlana Alexijewitsch und die Rumäniendeutsche Herta Müller | |
trennt genauso so viel, wie sie auch verbindet. Geboren in einer Diktatur | |
und aufgewachsen mit einer Generation von Großeltern und Eltern, die, | |
traumatisiert von den Schrecken des Krieges, die Vergangenheit schamhaft | |
beschweigt. | |
Alexijewitsch vertieft sich schon früh in die russische Literatur, erzählt | |
sie. Doch zur eigentlichen Inspirationsquelle werden die alltäglichen | |
Geschichten ganz normaler Menschen, die sich, auf der Suche nach Antworten | |
auf die existentiellen Fragen des Lebens, ihrer eigenen Erfahrungen | |
bedienen und diese in Sprache kleiden. „Die Realität war stärker als | |
Dostojewski“, sagt Alexijewitsch am Donnerstag. | |
Genau diese Realität ist es, die die 72-Jährige zu ihrem Werk, ihren | |
Romanen aus Stimmen, verdichtet und damit einen einzigartigen Einblick in | |
die Welt des Homos sowjeticus ermöglicht. | |
## Schmerzhafter Befund | |
Auch Herta Müller hungert nach Literatur, die sie jedoch selbst nie | |
schreiben wollte. Doch angesichts eines unstillbaren Leidens an den äußeren | |
Umständen wird das Schreiben zu einer inneren Notwendigkeit und zu einem | |
Mittel der eigenen Selbstvergewisserung. | |
1987 reist Herta Müller nach Deutschland aus. Sie habe die Diktatur | |
verlassen, aber die Diktatur habe sie nicht verlassen, lautet ihr | |
schmerzhafter Befund. Da ist schon klar, dass der lange Arm des | |
berüchtigten Staatssicherheitsdienstes Securitate bis nach Deutschland | |
reicht und auch dort die Verleumdungs- und Schmutzkampagnen gegen Müller | |
weitergehen. | |
„Diktatur, wie geht das“, fragt Müller, lenkt den Blick nach Belarus und | |
ist plötzlich in der Gegenwart angekommen. „Ein ganzes Land stehlen, den | |
Menschen ihre Leben stehlen?“ Das zu sehen mache sie verrückt. Dieses | |
Satzes hätte es gar nicht bedurft. Zu offensichtlich sind die Emotionen, | |
die in diesem Moment aus der Schriftstellerin mit aller Macht heraus | |
brechen. | |
## Stalinismus, Denunziantentum | |
Wie Diktatur geht, weiß Alexijewitsch nur zu gut. Seit Monaten gehen die | |
Menschen in Belarus gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auf die Straße. | |
Der Brutalität des Regimes, den Alexijewitsch als „Genozid am eigenen Volk“ | |
bezeichnet, hätten die Belaruss*innen versucht, Friedfertigkeit und | |
Schönheit entgegenzusetzen. | |
Doch der Versuch, die Menschen gegen den übermächtigen Feind zu einen, sei | |
gescheitert. Schon längst griffen wieder die Mechanismen des Stalinismus. | |
Denunziantentum, das sich aus Angst speise, greife wieder um sich. „Die | |
Zeit der Romantik ist der Zeit des Realismus gewichen“, sagt Alexijewitsch. | |
Was vermag da Kunst beziehungsweise Literatur? Sie könne die Welt nicht | |
verändern. Aber sie könne das Humane erhalten, die Menschen erhöhen und sie | |
der Banalität des Alltags entreißen. | |
Literatur, das heiße trösten, nicht täuschen, sagt Herta Müller. In Zeiten | |
wie diesen ist das schon viel. | |
27 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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