| # taz.de -- Geflüchtete Ukrainer:innen in Görlitz: Sachsen kann auch anders | |
| > Keine Stadt in Deutschland ist der Ukraine so nah wie Görlitz. Zugleich | |
| > ist sie AfD-Hochburg. Wie werden die ersten Geflüchteten dort empfangen? | |
| Bild: Maria Kalmykova hat mit ihrem Bruder Görlitz erreicht, die Eltern sind i… | |
| Görlitz taz | Von ihrem Vater hat sich Maria Kalmykova, 23, inmitten eines | |
| langen Staus nahe der polnisch-ukrainischen Grenze verabschiedet. Viel Zeit | |
| blieb ihr nicht. „Ich habe meinen Papa und meinen Hund geküsst“, erzählt | |
| Maria, „und dann sind wir auch schon losgelaufen“. Wir, das sind Maria, ihr | |
| 13 Jahre alter Bruder Wanja und ihre Mutter. Weil sie mit dem Auto mehrere | |
| Tage im Stau gestanden hätten, hat die Familie entschieden, dass die Mutter | |
| ihre Kinder die restlichen 25 Kilometer bis zum Grenzübergang Korczowa zu | |
| Fuß begleitet. | |
| Dort hat ein Freund der Familie, Enno Deege aus Görlitz, Maria und Wanja | |
| abgeholt. „Meine Mama ist dann wieder zurück zum Auto gelaufen, wo mein | |
| Papa wartete“, sagt Maria. Er darf das Land, wie alle Ukrainer zwischen 18 | |
| und 60 Jahren, nicht verlassen – und die Mutter möchte nicht ohne ihn | |
| gehen. | |
| Maria und ihre Familie wohnen normalerweise in einem Haus in Morschyn, | |
| einer 6.000-Einwohner:innen-Stadt, rund 80 Kilometer von Lwiw entfernt. | |
| Davor hat die Familie auf der Krim gelebt, die sie 2014 aufgrund der | |
| Annexion durch Russland verlassen hat. Morschyn liegt ganz im Westen der | |
| Ukraine und sei momentan „die sicherste Region des Landes“, berichtet | |
| Maria, die Stadt wurde noch nicht bombardiert, aber auch dort gebe es schon | |
| Fliegeralarm. | |
| Inzwischen sind Maria und ihr kleiner Bruder seit sieben Tagen in Görlitz | |
| in Ostsachsen. Sie übernachten bei Enno Deege im Wohnzimmer, der selbst | |
| drei Kinder im Alter von 8 bis 16 Jahren hat. Das Gespräch mit der taz | |
| findet im Görlitzer Jugendhaus Cateedrale statt, das Deege mit leitet. | |
| Maria sitzt auf einem dunkelrot gepolsterten Sessel. | |
| ## „Der Abschied von Mama an der Grenze war schwer“ | |
| Sie trägt einen türkisfarbenen Kapuzenpulli, ihr braunes Haar hat sie zu | |
| einem Zopf zusammengebunden. Alle paar Minuten schaut sie auf ihr | |
| Smartphone, das vor ihr auf einem kleinen Holztisch liegt und ständig | |
| aufleuchtet. Marias Bruder Wanja hat sich in einen gelb-orange geblümten | |
| Sessel links von ihr zurückgelehnt und isst einen großen Teller Spaghetti | |
| mit Tomatensauce und Fleischwurst, während seine Schwester von der Flucht | |
| erzählt. | |
| „Der Abschied von Mama an der Grenze war natürlich schwer“, sagt Maria. | |
| Geweint habe sie aber nicht. Während sie das sagt, wirkt sie selbst | |
| überrascht. „Ich war zu diesem Zeitpunkt 30 Stunden wach und einfach nur | |
| total erschöpft.“ Denn nach den 25 Kilometern Fußweg mussten sie am | |
| Grenzübergang noch mal elf Stunden warten, bis sie die Grenze am | |
| Samstagmorgen um acht Uhr endlich überqueren und sich ins Auto von Deege | |
| fallen lassen konnten. | |
| Maria und Wanja sind unter den ersten [1][Geflüchteten aus der Ukraine], | |
| die in Görlitz ankamen. Görlitz liegt ganz im Osten Sachsens an der | |
| polnischen Grenze, keine andere deutsche Stadt ist näher an der Ukraine | |
| dran als sie. Knapp 600 Kilometer Luftlinie trennen Görlitz von der | |
| ukrainischen Grenze – das ist genauso weit wie von Görlitz nach Freiburg. | |
| Wegen des Krieges in der Ukraine sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk | |
| UNHCR bereits mehr als eine Million Menschen geflohen, ein Großteil davon | |
| nach Polen. In Görlitz sind inzwischen nach Schätzungen zwischen 250 und | |
| 500 Kriegsgeflüchtete eingetroffen, von denen etwa 100 geblieben sind. | |
| Genaue Zahlen gibt es bislang nicht. | |
| Wie groß ist die Hilfsbereitschaft in der Stadt, in der 2021 bei der | |
| Bundestagswahl 30 Prozent der Bürger:innen die AfD gewählt haben? Wie | |
| bereitet sich Görlitz auf die Aufnahme von weiteren Geflüchteten vor? Und | |
| wie geht es den Menschen, die die Flucht geschafft haben und in Görlitz | |
| angekommen sind? | |
| Zu Besuch bei Franziska Schubert, Fraktionsvorsitzende der Grünen im | |
| sächsischen Landtag. Sie hat ihr Regionalbüro zu einer Koordinationsstelle | |
| für Geflüchtetenhilfe umfunktioniert. Hier können sich Görlitzer:innen | |
| als Helfer:innen registrieren und Unterkünfte für Geflüchtete melden. | |
| Die Zimmer werden direkt an Betroffene vermittelt. Die Grünen in Görlitz | |
| sind im ständigen Austausch mit Hilfsorganisationen wie dem Dresdner Verein | |
| Mission Lifeline, der an der polnischen und slowakischen Grenze mit | |
| Kleinbussen im Einsatz ist und Geflüchtete nach Deutschland bringt, auch | |
| nach Görlitz. | |
| „Die Hilfsbereitschaft ist immens“, sagt Schubert. „Sehr viele | |
| Bürger:innen wollen sich engagieren.“ Seit Montag hätten sich bei ihrer | |
| Koordinationsstelle mehr als 400 Helfer:innen gemeldet. Allein aufgrund | |
| privater Angebote könnten die Grünen ad hoc 550 Geflüchtete unterbringen. | |
| Hinzu kämen die vielen anderen Aktionen in der Stadt: Enno Deeges | |
| Jugendverein Cateedrale sammelt Verbandsmaterialien und Schmerzmittel, die | |
| Deege dieses Wochenende in einem Kleinbus zur ukrainischen Grenze bringen | |
| will. | |
| Der Verein hat außerdem eine Crowdfunding-Aktion mit den Stadtwerken | |
| gestartet. Die katholische Pfarrgemeinde sammelt Decken, Schlafsäcke, | |
| Medikamente, Hygieneprodukte, Konserven und Batterien, das Görlitzer | |
| Modelabel Laba verkauft für fünf Euro Ukraine-Soli-Shirts, die Görlitzer | |
| Wohnungsbaugesellschaft KommWohnen hat einen Lagerraum für Sachspenden zur | |
| Verfügung gestellt, das Best Western Hotel eine ganze Etage für | |
| Geflüchtete. | |
| „Ich bin stolz, dass Ostsachsen dieses Gesicht hat und zeigt“, sagt die | |
| Grünen-Politikerin. Damit spielt sie auf die Montagsspaziergänge an, die | |
| große AfD-Anhängerschaft und die Fremdenfeindlichkeit, für die Sachsen, | |
| insbesondere der Osten des Landes, bekannt ist. | |
| Bereits 2015, als Hunderttausende vor dem syrischen Bürgerkrieg nach | |
| Deutschland geflüchtet sind, sei das Engagement in Görlitz groß gewesen, | |
| sagt Schubert. „Jetzt ist die Hilfsbereitschaft aber gefühlt noch größer.�… | |
| Dieser Meinung ist auch Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU). 2015 hätten | |
| sich längst nicht so viele Privatpersonen gemeldet und Zimmer oder | |
| Wohnungen für Geflüchtete angeboten wie heute, sagt er. | |
| Woran es liegt, dass die Hilfsbereitschaft jetzt größer ist, kann | |
| Grünen-Politikerin Schubert nur vermuten. „Vielleicht hat es damit zu tun, | |
| dass der Krieg, vor dem die Menschen 2015 geflüchtet sind, weiter weg war. | |
| Jetzt ist der Krieg quasi vor der Haustür“, sagt Schubert. Aufgrund der | |
| Nähe zur Ukraine seien die Bürger:innen möglicherweise stärker | |
| ergriffen. Hinzu komme, dass viele Görlitzer:innen eine ostdeutsche | |
| Prägung und daher eine starke Verbundenheit mit ost- und mitteleuropäischen | |
| Ländern hätten. | |
| Kristina Seifert, 39, hat bereits am 24. Februar, als Russland die Ukraine | |
| erstmals angriff, entschieden, Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen zu | |
| wollen. Die Hebamme und Grünen-Stadträtin wohnt in einem | |
| Mehrgenerationenhaus, zusammen mit elf Erwachsenen, sechs eigenen und drei | |
| weiteren Kindern. Das Wohnprojekt – ein riesengroßes Bauernhaus mit weißen | |
| Steinfassaden und Fachwerk – verfügt über einen großen Gemeinschaftsraum, | |
| zwei Gästezimmer und ein kleines Gästehaus im Garten. 14 Geflüchtete | |
| könnten hier problemlos unterkommen, sagt Seifert, die einen bodenlangen | |
| türkisen Mantel zu rosafarbenen Adiletten trägt und ein warmes Lächeln hat. | |
| Am 26. Februar nahm sie die ersten vier Geflüchteten auf: drei | |
| Medizinstudentinnen und einen Ingenieurstudenten, die allesamt aus Nigeria | |
| stammen und zum Studieren in die Ukraine gegangen sind. „Die vier hatten | |
| nur ihren Pass und die Kleider dabei, die sie am Leib trugen“, erzählt | |
| Seifert. Per Facebook-Post hat sie Görlitzer:innen um Kleiderspenden | |
| gebeten. | |
| Zehn Säcke kamen zusammen. Außerdem hat sich Seifert darum gekümmert, dass | |
| die Geflüchteten ehrenamtlich arbeiten können: die Medizinstudentinnen in | |
| einem Altenheim und der Ingenieurstudent in einem Museum. „Die Studierenden | |
| brauchen dringend Struktur und Beschäftigung“, sagt Seifert. Allein mit | |
| einer Unterkunft sei es nicht getan. Sobald sie von ihrer | |
| 12-Stunden-Schicht im Kreißsaal nach Hause kommt, verbringt die Hebamme | |
| jede freie Minute mit den Geflüchteten – geht mit ihnen zu Behörden, in den | |
| Supermarkt, zum Arzt. | |
| ## Immer wieder Berichte über Rassismus an den Grenzen | |
| Kristina Seifert ist eine sehr herzliche, bescheidene Frau. Wenn man ihr | |
| Engagement lobt, kneift sie beschämt die Augen zusammen, schüttelt den Kopf | |
| und sagt lachend: „Nein, hör auf, das ist mir voll unangenehm.“ Die | |
| Aufnahme der Geflüchteten sei kein Aufwand für sie. „Ob ich jetzt auf der | |
| Couch sitze, den Haushalt mache oder mit den Studierenden Zeit verbringe, | |
| das macht doch keinen Unterschied.“ | |
| Chinecherem Gift Uwaoma, 26, ist eine der Medizinstudentinnen und schwärmt | |
| von Seifert. „Ich habe meiner Mami in Nigeria schon mehrmals geschrieben, | |
| wie lieb und hilfsbereit sie ist“, sagt Uwaoma. Die Studentin hat | |
| viereinhalb Jahre in der Ukraine gewohnt, erst ein Jahr in Kiew und danach | |
| in Uschhorod, das im Westen liegt und vergleichsweise sicher sei. Als der | |
| Krieg eskalierte und die ersten Ukrainer:innen aus dem Osten in den | |
| Westen des Landes flüchteten, haben Uwaoma und ihre Mitbewohner:innen | |
| – die anderen beiden Student:innen, die Seifert aufgenommen hat – | |
| beschlossen, die Ukraine zu verlassen. | |
| An der ukrainisch-slowakischen Grenze wurden sie [2][rassistisch | |
| diskriminiert]. Ein ukrainischer Beamter habe sie ignoriert und | |
| Ukrainer:innen, die hinter ihnen standen, vorgezogen, erzählt die | |
| Studentin. Erst als ein anderer Beamter kam, seien ihre Pässe kontrolliert | |
| worden. | |
| Uwaoma möchte zurück in die Ukraine, um ihr Medizinstudium zu beenden. Sie | |
| sei optimistisch, dass der Krieg bald ende, vielleicht in drei Monaten. | |
| Maria, die zusammen mit ihrem Bruder Wanja nach Görlitz gekommen ist, würde | |
| am liebsten jetzt schon zurück in die Ukraine reisen. „Ich will für mein | |
| Land kämpfen“, sagt sie. Doch ihre Mutter verbietet es. | |
| Die junge Frau denkt ununterbrochen an ihre Eltern und ihre Freund:innen, | |
| die größtenteils in der Ukraine geblieben sind und sich im Westen befinden. | |
| Sie hat große Angst, dass Russland bald auch diesen Teil des Landes | |
| angreift. „Gestern hatte ich einen schlimmen Albtraum, in dem meine | |
| Heimatstadt Morschyn bombardiert wurde“, sagt Maria. Sie hofft, dass ihr | |
| Albtraum nicht wahr wird. | |
| 7 Mar 2022 | |
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| Rieke Wiemann | |
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