# taz.de -- Thomas de Maizière zur Russlandpolitik: „Kein historisches Versa… | |
> Für Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière sind Kritiker von Merkels | |
> Russlandpolitik Rechthaber. Geirrt habe man sich aber in einer | |
> Einschätzung. | |
Bild: Er rechnet mit weiteren bitteren Nachrichten im Ukrainekrieg: Thomas de M… | |
taz: Herr de Maizière, Ihre Nach-Nachfolgerin im | |
Bundesverteidigungsministerium, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat nach dem | |
Angriff Russlands auf die Ukraine getwittert: „[1][Ich bin so wütend auf | |
uns, weil wir historisch versagt haben.] Wir haben nach Georgien, Krim und | |
Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte.“ Sehen | |
Sie das auch so – hat Deutschland historisch versagt? | |
Thomas de Maizière: Im Nachhinein ist es immer leicht, die Entwicklung zu | |
beurteilen. Bis zum Schluss war unklar, ob Putin angreift oder nicht. Die | |
allermeisten haben noch kurz zuvor gesagt, einen großen Angriff auf die | |
gesamte Ukraine wird es nicht geben. Putin hat vor dem Deutschen Bundestag | |
gesprochen und über strategische Partnerschaft geredet. Alle haben stehend | |
geklatscht. Wäre da ein Verteidigungsminister hingegangen und hätte gesagt: | |
„Ich glaube das alles nicht, wir brauchen jetzt 100 Milliarden Euro für die | |
Landesverteidigung“, hätte er politisch nicht überlebt. | |
Das war 2001. Seitdem hat sich viel verändert – und wir haben offenbar | |
nicht richtig hingehört. Spätestens ab 2007 haben Experten, besonders in | |
Osteuropa, vor Putin gewarnt. Das wollten weder Union noch SPD hören. | |
Interessant, dass Sie von „wir“ sprechen, Sie gehören offenbar auch dazu. | |
Klar war immer, dass man eine richtige Mischung zwischen Abschreckung und | |
Dialogbereitschaft braucht. Dass die Osteuropäer in besonderer Weise Sorge | |
hatten, das wussten wir schon. Aber viele haben das als übertrieben | |
wahrgenommen – als verständliche historische Ängste, die aber mit der | |
Gegenwart wenig zu tun haben. Wenn man sagt: Wir haben die Aggressivität | |
dieses Mannes falsch beurteilt, dann stimme ich zu. Aber das heißt nicht, | |
dass die Politik der letzten 20 Jahre falsch war. Die gesamte Einschätzung | |
der Politik Putins der letzten 20 Jahre zu einem historischen Versagen | |
nicht nur Deutschlands, sondern des gesamten Westens zu erklären, das geht | |
zu weit. | |
Angela Merkel hat in ihrer Zeit als Kanzlerin auf die Verständigung mit | |
Putin gesetzt. Oft wurde mit einem gewissen Stolz auf Merkels „besonderen | |
Draht“ zu ihm verwiesen. Diese Verständigung ist nun gescheitert. War das | |
der falsche Weg? | |
Im Ergebnis ist es gescheitert, aber nicht in der Methode. Viele Menschen | |
haben gesagt, Angela Merkel ist viel zu streng mit Putin und Russland. Sie | |
war, verglichen etwa mit Frankreich oder Italien, in Gesprächen mit Putin | |
eine der Härteren. Ich bleibe dabei: Es war eine Fehleinschätzung dieses | |
Mannes. Aber wir wissen nicht einmal, ob er immer schon so war oder ob er | |
sich verändert hat. [2][Jetzt gibt es dazu ja tiefenpsychologische | |
Gutachten] von Menschen, die ihn nie gesehen haben – was mich auch ärgert. | |
Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 haben Merkel und der französische | |
Präsident Sarkozy verhindert, dass Georgien und die Ukraine in die Nato | |
aufgenommen würden … | |
Das finde ich auch immer noch richtig. Damals war deren langfristige | |
demokratische Zuverlässigkeit keineswegs gesichert. Die Nato hätte sich ein | |
Problem in ihr Bündnisgebiet geholt. Möglicherweise hätte das Putin auch | |
zusätzlich provoziert. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was jetzt wäre, | |
wenn die Ukraine Mitglied der Nato wäre. | |
Das ist der Punkt – möglicherweise hätte Putin sie dann nicht angegriffen. | |
Ich finde interessant, dass ich jetzt von Ihnen mit Fragen konfrontiert | |
werde, die ich eher von Zeitungen aus dem anderen politischen Lager | |
erwartet hätte. Was hätten Sie denn von Ihren Lesern für ein Echo bekommen, | |
wenn Sie gefordert hätten, die Ukraine und Georgien in die Nato | |
aufzunehmen? | |
Vermutlich kein gutes. | |
Der Bundeskanzler hat nun von einer Zeitenwende gesprochen und ein Umdenken | |
in der Sicherheitspolitik angekündigt. Stellen Sie sich mal vor, Putin | |
scheidet, aus welchen Gründen auch immer, in einem Jahr aus dem Amt. Lassen | |
wir das dann alles? Was ich sagen will: Wir können keine Außen- und | |
Sicherheitspolitik haben, die Gewissheit über die Zukunft hat. Sie muss mit | |
Optionen umgehen, die in der Zukunft wahrscheinlich sein könnten. Und | |
trotzdem nachhaltig und besonnen handeln. | |
War [3][nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim], spätestens aber | |
seit den Vorstößen im Donbass eine Eskalation keine wahrscheinliche Option? | |
Hätte man sich nicht unabhängiger von russischem Gas machen müssen? Angela | |
Merkel hat immer an Nord Stream 2 festgehalten. | |
Immerhin hat die Gasversorgung auch im Kalten Krieg funktioniert. Und die | |
Alternativen zu Nord Stream 2 sind auch unter Menschenrechts- und | |
Umweltgesichtspunkten nicht besonders attraktiv. Die Gaslieferanten, die | |
infrage kommen, sind zum Beispiel Algerien und Katar. Oder Fracking-Gas aus | |
den USA. Dass Energiesicherheit jetzt einen höheren Stellenwert hat als | |
Klimaschutz, das entsprach vor dem Krieg in der Ukraine nicht dem | |
gesellschaftlichen Klima. | |
[4][ Aber Nord Stream 2 wurde nach 2014 sehr kontrovers diskutiert. ] | |
Ja, ich persönlich war auch skeptisch, was diese Entwicklung angeht. Aber | |
hier und jetzt möchte ich diese Rechthaberei im Nachhinein anprangern, dass | |
man alles hätte wissen müssen. | |
Herr de Maiziére, sehen Sie wirklich keine Fehler? Stellen Sie sich als | |
langjähriger Mitstreiter von Angela Merkel jetzt nicht persönlich die | |
Frage: Wie hätten wir diesen Krieg verhindern können? | |
Ich habe nicht gesagt, wir haben alles richtig gemacht. Ich habe gesagt, | |
die politischen Absichten von Putin haben wir falsch eingeschätzt. Aber | |
diese Hätte-Fragen sind ein Problem. Hätte man nach der Krim anders | |
gehandelt, wäre vielleicht Putins Reaktion noch viel schärfer gewesen. | |
Sehen Sie, ich bin Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Wir | |
haben vom Präsidiumsvorstand eine kräftige Erklärung dazu abgegeben, wonach | |
diejenigen, die ihr Land verteidigen, jegliche Unterstützung verdienen. Das | |
ist einem Teil des Kirchentages schon zu weit gegangen. In den Kirchen gibt | |
es eine große Debatte, ob das, was die Bundesregierung jetzt mit der | |
Bundeswehr vorhat, richtig ist. Diese Stimmen werden gerade nicht gehört. | |
Aber sie waren über Jahrzehnte prägend für die politische Debatte. Die | |
Union wollte immer mehr Verteidigungsbudget, aber das war gesellschaftlich | |
und in der Koalition nicht durchsetzbar. In unserem Expertenbericht über | |
die Neuausrichtung der Nato haben wir im Dezember 2020 klar formuliert, | |
Russland sei die größte sicherheitspolitische Bedrohung der Nato. Das Echo | |
in der Fachöffentlichkeit war groß, in der allgemeinen Öffentlichkeit | |
klein. Sicherheitspolitische Debatten waren in den vergangenen Jahren in | |
Deutschland unterentwickelt. Der Sachverstand, den es auf allen Seiten gab, | |
ist verloren gegangen. | |
Unmittelbar nach Kriegsbeginn hat Alfons Mais, immerhin Inspekteur des | |
Heeres, geschrieben: Die Bundeswehr „steht mehr oder weniger blank da“. In | |
den letzten Jahren ist der Verteidigungshaushalt von 30 auf 50 Milliarden | |
gestiegen – wieso ist das Heer noch blank? | |
Ich hätte dem Inspekteur des Heeres nicht geraten, diese Äußerung zu | |
machen. Erstens, weil ich glaube, dass es so nicht stimmt, und zweitens, | |
weil es unangemessen war. | |
Aber der schlechte Zustand der Bundeswehr wird seit Jahren beklagt. Wie | |
kann das sein? | |
Vorab: Die Bundeswehr verteidigt unser Land nicht allein, sondern im | |
Bündnis. Auch zeigt die Bundeswehr bei Auslandseinsätzen, wie einsatzbereit | |
sie ist. Wenn die Bundeswehr gerufen wird, dann klappt es, auch im Inland: | |
sei es bei Flut, Pandemie oder Migration. Aber natürlich sind die | |
Beschaffungsprozesse zu langwierig. Ich hoffe, dass es eine Chance gibt, | |
das zu ändern. Dabei geht es nicht nur um das Amt in Koblenz. | |
[5][Das Beschaffungsamt mit 10.000 Mitarbeitenden, dem vorgeworfen wird, es | |
sei ein bürokratischer Schlund,] aus dem nichts rechtzeitig wieder | |
herauskomme. | |
Das Erste ist, wenn man ein europäisches Flugzeug baut, muss es ein | |
europäisches Flugzeug sein – und es darf nicht jeder ein anderes bauen. | |
Bisher verhindern das nationale Egoismen und nationale industriepolitische | |
Standortpolitik aller Seiten. | |
Sie sprechen vom Eurofighter, der von Deutschland, Italien, Spanien, | |
Großbritannien und zuerst auch von Frankreich mitgebaut wurde. | |
Zweitens – beim Impfstoff gegen Corona waren alle bereit, die Entscheidung | |
einer europäischen Zulassungsbehörde zu akzeptieren. Bei Rüstungsgütern | |
laufen vier, fünf Zulassungsverfahren gleichzeitig – und das deutsche | |
dauert am längsten. Danach sind wiederum die Intervalle, in denen ein | |
Flugzeug oder Hubschrauber gewartet werden muss, bei uns am kürzesten. Das | |
muss sich ändern. | |
Als Verteidigungsminister haben Sie selbst erfahren, wie tückisch | |
Rüstungsbeschaffung ist – fast wären Sie über die „Euro Hawk“-Drohne | |
gestolpert. Was haben Sie daraus gelernt? | |
Die Verträge mit der Industrie waren damals nicht gut ausgehandelt. Aber | |
darin steckt auch ein Strukturproblem: Die Streitkräfte bestellen gerne | |
Dinge, die es noch nicht gibt, weil man an der Spitze des Fortschritts | |
stehen will. Da wird es immer Konflikte darüber geben, wann die Industrie | |
einen Vertrag erfüllt hat – oder wofür sie zusätzliches Geld verlangen | |
kann. Dazu kommt, dass immer neue militärische Führer neue Anforderungen an | |
das Gerät formulieren und so die Entwicklung nie zum Ende kommt – und immer | |
teurer wird. | |
Herr de Maizière, zum Schluss: Was glauben Sie, wie es mit der Ukraine | |
weitergehen wird? | |
Ich stelle mich innerlich auf die schlechteren Szenarien ein. | |
Langanhaltende Kämpfe mit hohen zivilen Opfern und großen | |
Flüchtlingszahlen. So bitter das ist. | |
10 Mar 2022 | |
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[1] https://twitter.com/akk/status/1496803129328816135?s=20&t=nyc9ynqtoXWDo… | |
[2] /Putins-Krieg-und-die-Folgen/!5835282 | |
[3] /Fuenf-Jahre-nach-der-Krim-Annexion/!5580865 | |
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