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# taz.de -- Friedenspolitik in Kriegszeiten: Zurück auf null
> Die europäische Friedensstrategie muss neu aufgestellt werden.
> Abschreckung und Kooperation gehören gleichermaßen dazu.
Mit Russlands [1][Krieg gegen die Ukraine] ist die internationale Ordnung
wieder am Anfang. Back on Square One. Noch ist der Krieg nicht zu Ende und
die Gefahr einer weiteren Eskalation nicht gebannt. Der Einsatz chemischer
und sogar nuklearer Waffen ist ein reales Risiko. In den zerbombten Städten
leiden, hungern und sterben die Menschen. Der Begriff „humanitäre
Katastrophe“ beschreibt die Situation nur unvollkommen. Parallel wird
verhandelt.
Ob es aber wirklich um einen Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen
geht, ist unklar. Denn angesichts der fortgesetzten Brutalisierung des
Krieges weiß niemand, ob die russische Seite nicht nur Zeit gewinnen will,
um sich neu zu formieren und den nächsten Angriff zu starten.
Kann man, darf man in dieser Situation eines menschenverachtenden Krieges,
mit dem der russische Präsident allem Anschein nach seine großrussische
Vision und den russischen Großmachtstatus herbeibomben will, über eine
zukünftige Friedensordnung reden?
Muss es nicht jetzt allein um die Kriegsbeendigung, um das Verhindern
weiterer Eskalation gehen? Um die Frage, welche Waffensysteme und
Ausrüstung die Streitkräfte benötigen, mit welchen Waffen man der Ukraine
noch helfen könnte, wie die Ostflanke der Nato verstärkt werden kann, um
Russland von möglichen weiteren Feldzügen abzuhalten?
Das alles ist nötig. Und doch ist es auch wichtig und richtig, schon jetzt
über das „Danach“ des Krieges und eine zukünftige Friedens- und
Sicherheitsordnung nachzudenken und diese intellektuell und praktisch zu
planen. Denn das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik
sein. Dieser Krieg könnte noch lange dauern, aber er wird irgendwann zu
einem Ende kommen. Was kommt danach? Wie umgehen mit diesem Russland, wie
mit den gemeinsamen Institutionen und Vertragswerken?
Die europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur, wie sie in den
letzten dreißig Jahren aufgebaut wurde, liegt in Trümmern, und auch die
internationale regelbasierte Ordnung ist stark in Mitleidenschaft gezogen.
Der Krieg in der Ukraine und die Tatsache, dass er im UN-Sicherheitsrat
nicht verurteilt wurde, machen deutlich, dass die gemeinsamen Normen und
Institutionen internationaler Politik nicht länger geteilt werden.
## Keine Selbstverteidigung
Nicht im Entferntesten kann der Krieg als Selbstverteidigung im Sinne des
[2][Artikels 51 der UN-Charta] gerechtfertigt werden. Eine Bedrohung
Russlands war von keiner Seite gegeben. Auch die Rede vom Genozid an der
russischstämmigen Bevölkerung oder neuerdings der Vorwurf, die Ukraine
hätte mit den USA einen Biowaffenangriff auf Russland geplant, entbehren
jeglicher Plausibilität.
Nein, dies war ein kaltblütiger Angriffskrieg einer Großmacht, um ihre
geopolitischen Machtinteressen durchzusetzen. So hat es auch [3][China
verstanden, das sich weigert, diesen Krieg zu verurteilen], weil die
Verantwortung dafür angeblich bei der Nato liege, die zu stark in die
Interessensphäre Russlands vorgedrungen sei.
Nun ist das Gewaltverbot der Vereinten Nationen schon öfter für tot erklärt
worden, als es Zeitenwenden in der deutschen Außenpolitik gegeben hat, und
Russland ist keinesfalls die erste Großmacht, die das Völkerrecht bricht
und einen Krieg beginnt. Aber in der Offenheit, mit der hier
Großmachtpolitik zum rechtfertigenden Grund wird, um das Völkerrecht
beiseitezuschieben, ist es nur selten geschehen. Nicht nur in der deutschen
Außenpolitik, auch global sehen wir eine Zeitenwende.
Noch gravierender ist die Lage auf dem europäischen Kontinent. Mit dem
Einmarsch in die Ukraine ungeachtet aller Gespräche und
Verhandlungsangebote hat Putin die Europäische Friedens- und
Sicherheitsarchitektur zertrümmert. Diese Ordnung war im Kalten Krieg
entstanden, in der Schlussakte von Helsinki 1975 niedergelegt, mit der
[4][Charta von Paris 1990] weiterentwickelt und im Rahmen der OSZE und dem
Europarat in ein bindendes Vertragssystem überführt worden.
Sie basierte auf den Grundpfeilern von territorialer Integrität, souveräner
Gleichheit aller Staaten und der Pflicht zur friedlichen Konfliktbeilegung.
Dieses System kooperativer Sicherheit, gestützt auf gemeinsame
Rüstungskontrollverträge und vertrauensbildende Maßnahmen, aber auch die
Förderung von Demokratie und Menschenrechten, war verantwortlich für die
friedliche Überwindung des Kalten Krieges.
Viele seiner Elemente, von der Rüstungskontrolle bis hin zur
Menschenrechts- und Demokratieförderung, waren zuletzt in die Krise
geraten. Aber erst der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Ordnung
zum Einsturz gebracht, weil er das Vertrauen der Mitglieder in diese
Ordnung erschüttert.
## Die alte Ordnung ist nicht mehr
Einen Weg zurück zur Friedens- und Sicherheitsordnung, wie wir sie kannten,
wird es nach diesem Krieg nicht geben. Gegenwärtig zeichnet sich ein
Rückbau der Beziehungen zu Russland und möglicherweise auch zu China ab,
und zwar politisch, wirtschaftlich und kulturell. Politisch hat der Rückbau
längst begonnen. Russland ist aus dem Europarat ausgetreten, nachdem ihm
das Stimmrecht entzogen worden ist.
Die Nato-Russland-Grundakte ist obsolet, und Russland hat wiederholt
angedeutet, es könnte sich aus so wichtigen internationalen Institutionen
wie der OSZE, der letzten paneuropäischen Sicherheitsorganisation, und der
OPCW, die für die Einhaltung der Chemiewaffenkonvention zuständig ist,
zurückziehen.
Auch wirtschaftlich zeichnet sich ein Rückbau der Beziehungen ab. Hier
markieren die umfassenden Sanktionspakete der letzten Wochen den Beginn
einer sich rasch beschleunigenden Entflechtung, bei der sich auch
Unternehmen, die nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind, aus
Russland zurückziehen. Hinzu kommt die Diskussion über eine längerfristige
Entflechtung etwa im Energiesektor, aber auch mit Blick auf andere
kritische Infrastrukturen und tief integrierte Lieferketten.
Ziel ist es, Verwundbarkeiten zu reduzieren und Resilienz zu steigern, denn
die [5][russischen Drohungen, den Gashahn zuzudrehen], haben
unmissverständlich deutlich werden lassen, dass wirtschaftliche
Verflechtung auch als Waffe genutzt werden kann.
Das ist dann möglich, wenn einer der Partner eine zentrale Position in
einem Netzwerk oder einer Lieferkette einnimmt, die es ihm ermöglicht,
Dienstleistungen oder Ressourcen zu blockieren, wie die USA durch die
Bedeutung des amerikanischen Dollars im Finanzsektor oder Russland
gegenwärtig im europäischen Energiemarkt.
Entflechtung zeigt sich aber auch im Bereich der Kultur. Schon jetzt sind
wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Russland weitgehend
eingefroren oder suspendiert. Russische Fernsehprogramme und Sender sind in
vielen europäischen Ländern und den USA abgeschaltet. Sportliche
Großveranstaltungen in Russland werden abgesagt und das internationale
Olympische Komitee empfiehlt seinen Mitgliedsverbänden den [6][Ausschluss
von Sportlerinnen und Sportlern aus Russland] bei internationalen
Wettbewerben.
Die Gefahr ist, dass bei einem unkontrollierten Rückbau und dem Versuch,
einseitige Abhängigkeiten und die daraus resultierenden Verwundbarkeiten zu
reduzieren, Beziehungen zerstört werden könnten, die für beide Seiten
weiterhin wichtig sind.
Die zu beobachtenden Overcompliance-Effekte, die viele Unternehmen mit
Blick auf die Sanktionspakete dazu bringen, sich präventiv oder viel
weitreichender aus Russland zurückzuziehen als nötig, sind dafür ebenso ein
Beispiel wie der Abbruch wissenschaftlicher Kooperationen oder die
Aufkündigung der noch verbleibenden politischen Vertragswerke.
## Kontrollierte Entflechtung
Je drastischer die Verbindungen zwischen Russland und Europa abnehmen,
desto schwieriger wird es zukünftig, Einblick in die russische Realität zu
bekommen, Verständnis für einander aufzubringen und letztlich basales
Vertrauen, und sei es nur in die Verlässlichkeit der jeweils anderen Seite,
wieder aufzubauen. Statt eines unkontrollierten Rückbaus der Beziehungen,
statt überstürzter Aufgabe gewachsener Verbindungen, brauchen wir eine
Strategie der kontrollierten Entflechtung.
Denn trotz des Krieges in der Ukraine und entgegen einer zurzeit wieder
populären Meinung, ist die Idee von der Annäherung durch Handel, ist die
Idee, dass Interdependenz zu friedlichen Beziehungen beiträgt, keineswegs
gescheitert. Der Krieg macht nur deutlich, dass Handel den Frieden nicht
alleine sichern kann, insbesondere dann nicht, wenn er zu asymmetrischen
Verhältnissen und einseitiger Verwundbarkeit führt und wir es mit einem
potenten Aggressor zu tun haben.
Den kann nur glaubwürdige Abschreckung aufhalten, aber keine Normen und
Handel. Umgekehrt ist aber ebenso wahr, dass Abschreckung allein keinen
nachhaltigen Frieden hervorbringen kann, sondern, zumindest unter
Atommächten, zum Ritt auf der Rasierklinge zu werden droht. Die vielen
Beinahekatastrophen im Kalten Krieg, am besten wohl die Kubakrise,
versinnbildlichen diese Problematik.
Die Lehre aus diesen Krisen war die Erkenntnis, dass es ohne basale
Kooperation nicht gehen kann. Die Einrichtung eines „heißen Drahtes“
zwischen Washington und Moskau und der vorsichtige Aufbau gemeinsamer
Kooperationsbeziehungen in der Entspannungspolitik war dieser Einsicht
geschuldet.
Die Erfahrungen des Kalten Krieges sind wichtig, aber sie können schon
deswegen keine Blaupause für die Zukunft sein, weil mit China ein weiterer
starker Player die Weltbühne betreten hat und die Klimakrise uns zu
gemeinsamem Handeln zwingt. Über das Danach des Krieges nachzudenken
bedeutet deshalb, neu zu überlegen wie Abschreckung und Kooperation im 21.
Jahrhundert zusammengedacht und miteinander verschränkt werden können. Wir
müssen beides wieder zusammendenken. Wir sind zurück am Anfang.
26 Mar 2022
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[2] https://unric.org/de/charta/
[3] /UN-Generalversammlung-verurteilt-Krieg/!5839174
[4] https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a9…
[5] /Angst-vor-Lieferstopp-Russlands/!5837540
[6] /Sportboykott-gegen-Russland/!5835312
## AUTOREN
Nicole Deitelhoff
Christopher Daase
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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