# taz.de -- Buchautorin über russische Gegenkultur: „Die Nischen sind geschr… | |
> Die Autorin Norma Schneider veröffentlicht mit „Punk statt Putin“ ein | |
> Buch über russische Gegenkultur. Trotz Krieges widersetzt sich diese der | |
> Repression. | |
Bild: Die Band Pussy Riot verlässt die Polizeistation in Sotschi während der … | |
taz: Frau Schneider, Sie haben mit der Recherche für Ihr Buch deutlich vor | |
dem russischen Überfall auf die Ukraine begonnen. Ist Gegenkultur in | |
Russland vor und nach dem Kriegsbeginn überhaupt vergleichbar? | |
Norma Schneider: Der 24. Februar 2022 hat auch für die russischen | |
Gegenkultur alles verändert. Die schon zuvor engen Nischen für | |
oppositionelle Kunst und Proteste sind noch einmal massiv geschrumpft. | |
Gegenkultur nimmt nun eine viel klarere Opposition zum Regime ein, und das | |
System Putin begreift sie viel stärker als Feind. Das hat rasch dazu | |
geführt, dass ein Großteil inzwischen im Exil stattfinden muss, weil | |
Freiräume innerhalb Russlands kaum mehr existieren. | |
Welche Auswirkungen hatte der 24. Februar auf die Arbeit an Ihrem Thema? | |
Zunächst praktische: Meine für April letzten Jahres geplante Recherchereise | |
nach Russland konnte ich nicht mehr durchführen. Aus Sicherheitsgründen, | |
aber auch – und das war die nächste Erkenntnis – weil mein Konzept geände… | |
werden musste. Ursprünglich interessierte mich, was an Gegenkultur in | |
Russland möglich ist. In westlichen Medien hört man meist nur etwas, wenn | |
jemand ins Gefängnis wandert. [1][Wie etwa bei Pussy Riot, über die erst | |
breiter berichtet wurde, als die Künstlerinnen vor Gericht standen und | |
schließlich ins Straflager mussten]. Daneben aber passiert viel | |
Uneindeutiges, Widersprüchliches, und es ist nicht so, dass man für alles | |
gleich ins Gefängnis kam. Manches, was von außen betrachtet als klare | |
Provokation erschien, wurde kaum geahndet, anderes, das viel zahmer wirkte, | |
hingegen schon. Diese Ambivalenz wollte ich mit meiner Recherche | |
ausleuchten, aber mit dem 24. Februar 2022 war sie auf einen Schlag | |
verschwunden. | |
Weil Künstler:innen sich positionieren mussten? | |
Genau. Es stellte sich die zwingende Frage: Bin ich gegen diesen Krieg? | |
Dann muss ich ins Exil oder kann nicht mehr öffentlich arbeiten, weil das | |
Putin-Regime hart gegen jeden Widerspruch vorgeht. Oder schweige ich dazu | |
und heiße den Überfall samt seinen Kriegsverbrechen damit gut, stelle mich | |
also auf die Seite des Regimes. Diese neue Absolutheit teilt das Buch in | |
zwei Teile: Das Verhältnis zwischen Staat und Gegenkultur in den | |
Putin-Jahren vor dem Krieg. Und die Zeit seit 24. Februar 2022, was heute | |
noch möglich ist. | |
Löst der Kriegsbeginn eine stilistische Definition von Gegenkultur ab durch | |
eine inhaltliche? Auch die Putin-nahe Opernsängerin Anna Netrebko | |
verurteilte den Krieg irgendwann, aber macht sie das zum Teil der | |
Opposition? | |
Gegenkultur ließ sich meiner Meinung nach auch vor Kriegsbeginn nicht | |
stilistisch definieren. Das tue ich in meinem Buch auch bewusst nicht. Es | |
gibt in Russland viele Beispiele von Kunstformen, die rein formell häufig | |
der Gegenkultur zugeschrieben werden – etwa Aktionskunst, experimentelle | |
Musik und Graffiti – die inhaltlich aber auf Linie mit dem Regime sind. Was | |
auch daran liegt, dass die russische Politik sich aktiv um diese | |
Kulturformen mit ihrem jüngeren Publikum bemüht und diese patriotisch | |
auflädt. | |
Ihr Buch beschreibt einen absurden Versuch politischer Vereinnahmung: Da | |
erklärt ein russischer Nachrichtensprecher, dass Rap mitnichten | |
afroamerikanischen Ursprungs sei, sondern urrussische Wurzeln habe beim | |
sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski. Wird das etwa geglaubt? | |
[2][Mein Eindruck ist, dass die Mehrzahl der jungen Menschen darauf nicht | |
hereinfallen, schon weil sie die TV-Propaganda-Sendungen gar nicht sehen]. | |
Fernsehen ist für sie kein relevantes Medium mehr. Gleichzeitig erreicht | |
der Propagandaapparat insgesamt durchaus ein jüngeres Publikum, etwa über | |
patriotische Jugendorganisationen. | |
Wie sehr hat die Recherche aus der Ferne den Buchinhalt geprägt? | |
Ich musste ohne Reportage-Eindrücke auskommen. Ohne Vor-Ort-Recherche fehlt | |
meinem Buch somit das Gefühl, wie es ist, sich in einem extrem repressiven | |
Staat wie Russland in der Gegenkultur zu bewegen. Wie ist die Stimmung auf | |
einem Punk-Konzert? Wie geht es den Organisatorinnen einer feministischen | |
Lesung? Aber das ändert nichts daran, dass ich den Aufbau des Buchs für | |
richtig halte: Ich beginne mit einem eher theoretischen Teil zur Rolle von | |
Kultur in Russland und zeige auf, wie Gegenkultur in diesem Umfeld | |
funktioniert. Und dann nenne ich Beispiele für Gegenkultur und wie sie sich | |
durch den Krieg verändert hat. Dafür habe ich mit vielen | |
Vertreter:innen gesprochen, die persönliche Einblicke haben. | |
Auch ohne diese reportagigen Elemente erinnern Passagen Ihres Buchs an eine | |
historische Form westlicher Gegenkultur, als angesagte Namen noch | |
Geheimwissen waren und von Punk-Konzerten ein Hauch von Gefahr ausging. | |
Besteht Nostalgiegefahr? | |
Nein. An keiner Stelle wünsche ich mir eine vermeintlich authentische | |
Gegenkultur mit Risiken und Repressionen zurück. Durch die Beschäftigung | |
mit russischer Gegenkultur habe ich eher das Privileg zu schätzen gelernt, | |
in Deutschland selbst organisiert kritische Kultur schaffen zu können, ohne | |
Gefahr zu laufen, dafür jahrelang ins Gefängnis zu gehen. Wenn in Russland | |
bestimmte Texte nur unter der Hand verbreitet werden, wenn | |
Veranstaltungsorte nur über Vertrauenspersonen weitergegeben werden, dann | |
passiert das aus der schieren Not heraus, sich schützen zu müssen. | |
Gegenkultur entwickelt sich gewöhnlich auch strukturell: Verlage, Räume, | |
Veranstalter:innen verbinden Künstler:innen zu etwas Größerem, | |
einer Szene. In Russland scheint derzeit im Gegenteil eine Atomisierung | |
stattzufinden. | |
Nach meinen Recherchen ist mein Eindruck, dass es lokale Szenen bis heute | |
gibt, schon allein, weil die Zahl der Aktiven überschaubar ist und man sich | |
untereinander kennt. Auch innerhalb Russlands ist Gegenkultur weiterhin | |
vernetzt, der Größe des Landes wegen eher digital. Es existiert | |
beispielsweise ein feministisches Netzwerk, das in verschiedenen Städten | |
versucht, sichere Räume zu schaffen, aber auch überregional verbunden ist. | |
Dass diese Szenen heute von außen kaum mehr sichtbar sind, liegt an den | |
gestiegenen Repressionen. Kleine, singuläre Projekte haben bessere Chancen, | |
unter dem Radar des Regimes zu bleiben. Kaum jemand will gerade in | |
Konfrontation mit dem Regime gehen. | |
Wie hat der Krieg gegen die Ukraine Rolle und Funktion von Gegenkultur | |
verändert? | |
Sie ist auf zwei Arten wichtiger geworden: Als Versicherung innerhalb der | |
Szene, nicht allein zu sein. Und als Korrektiv, das staatliche Propaganda | |
entlarvt, die den Krieg als „Spezialoperation“ verkleidet und von | |
„Denazifizierung“ in der Ukraine schwadroniert. Doch der Raum für Kultur, | |
die das Regime herausfordert, ist so eng geworden, dass sie ganz | |
überwiegend im Exil stattfinden muss und dort hauptsächlich Menschen | |
erreicht, die ohnehin Putins Lügen durchschauen. | |
Können Sie ein Beispiel nennen? | |
Wenn jemand wie die Künstlerin Sasha Skochilenko Supermarktpreisschilder in | |
St. Petersburg durch Informationen über die Gräueltaten der russischen | |
Truppen in Mariupol austauscht, ist das hochgefährlich. Sie sitzt seit | |
Monaten im Gefängnis, ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft. | |
Interventionen wie die genannte bleiben nachdrücklich in Erinnerung. Ihr | |
Buch aber beschäftigt sich hauptsächlich mit Musik und Literatur. Waren | |
dieser Schwerpunkte rückblickend richtig? | |
Ja. Literatur ist ein langsames Medium, kritische Bücher zur aktuellen Lage | |
sind vermutlich gerade im Entstehen. Sie ist eine wichtige Form der | |
Reflexion, schon weil die russische Mainstream-Kultur sich so stark über | |
die russischen Klassiker definiert. Wie wirkmächtig Literatur sein kann, | |
zeigt der queere Bestsellerroman „Sommer im Pionierhalstuch“. Erst sein | |
Erfolg führte zu schärferen Gesetzen gegen die Darstellung „nicht | |
traditioneller Beziehungen“. Musik wiederum ist ein schnelles Medium, das | |
traditionell von der Gegenkultur genutzt wird. Hier gibt es bereits erste | |
kritische Songs von bekannten russischen Bands, die ein ungleich größeres | |
Publikum erreichen als eine Performance, von der es vielleicht ein, zwei | |
Fotos gibt. | |
Die Literatur- und Musikkapitel enden mit Lese- und Songlisten. Warum? | |
Mir erscheinen diese Listen als logische Verlängerung des Versuchs, diese | |
Kulturformen inhaltlich sichtbar zu machen, über mögliche Haftstrafen und | |
Gerichtsprozesse hinaus. Mein Buch will mehr sein als theoretische | |
Betrachtung. Ich sehe in diesen Liedern und Texten einen künstlerischen | |
Wert, den das Buch mitteilen will. | |
14 Apr 2023 | |
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Gregor Kessler | |
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