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# taz.de -- Repression gegen Dissidenten in Russland: Bestenfalls drei Jahre
> In Russland sind Oppositionelle der Willkür von Justizbeamten ausgesetzt.
> Sascha Skotschilenko und Dmitri Skurichin protestierten gegen den Krieg
> in der Ukraine – und werden auf unbestimmte Zeit inhaftiert.
Bild: Alexandra „Sascha“ Skotschilenko bei einem Gerichtstermin in St. Pete…
Ihre Botschaften hat Alexandra „Sascha“ Skotschilenko in Supermarktregalen
hinterlassen, zwischen Kaffee, Tee und Snacks. Die russische Künstlerin
tauschte nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Frühjahr 2022 in
einem Laden in St. Petersburg einige Preisschilder aus, um die Putin’sche
Propaganda zu desavouieren.
Auf den Etiketten waren Informationen zu lesen wie: „Die russische Armee
hat eine Kunstschule in Mariupol bombardiert, in der sich 400 Menschen
versteckt hatten“. Oder: „Stoppt den Krieg!“
Sascha Skotschilenko sitzt derzeit in der Untersuchungshaftanstalt Nummer 5
in St. Petersburg. Im April 2022 wurde sie verhaftet. Nun läuft der Prozess
gegen die 32-Jährige in St. Petersburg, ihr drohen 10 Jahre Haft. Die
Staatsanwaltschaft wirft ihr die Verbreitung von „Fehlinformationen über
die russische Armee“ vor.
Skotschilenko ist keine unbekannte Künstlerin, sie veröffentlichte 2014 ein
„Buch über Depressionen“, das auch ins Englische übersetzt wurde.
Über ihre Pflichtverteidigerin Margarita Kisljakowa hat die taz der
inhaftierten Künstlerin Anfang April einige Fragen zukommen lassen. Den
Gerichtsprozess sieht Skotschilenko auch als Chance, Aufmerksamkeit zu
generieren: „Es ist eine Gelegenheit, auf völlig legale und öffentliche
Weise über den Krieg zu sprechen und meine Position zu vertreten.
Heutzutage haben nicht viele Menschen in Russland eine solche Gelegenheit“,
schreibt sie.
Zwar schwiegen die Staatsmedien zu ihrem Fall, aber zu den Verhandlungen
kämen jede Menge Journalisten. Oppositionsmedien und Blogger berichteten
darüber. „Mein Prozess ist irgendetwas zwischen einer Hollywoodshow und
einer alten Tragödie“, schreibt sie. „Gerade läuft der Akt
‚Gefangenschaft‘.“
In dieser Gefangenschaft wurde und wird sie schikaniert und schlecht
behandelt. Skotschilenko leidet unter der Autoimmunerkrankung Zöliakie und
ist deshalb auf glutenfreies Essen angewiesen – lange hat man ihr dieses
versagt und schwere gesundheitliche Probleme in Kauf genommen.
Eine Ärztin, die sie im Gefängnis untersuchte, hat ihr kürzlich zudem
Herzprobleme attestiert. Besuch von ihrer Freundin Sonja Subbotina konnte
Skotschilenko erst kürzlich, Anfang April, erstmals empfangen – ein Jahr
nach Haftbeginn. „In meinem Fall wurde sie zur Zeugin ernannt, das war der
offizielle Grund, warum wir uns nicht sehen durften.“
## Unmöglich zu heiraten
Einzig ihrer Familie sei der Besuch gestattet gewesen. Skotschilenko aber
sind ihre Freunde und ihre Freundin mindestens genauso wichtig wie ihre
Verwandten. „Meine Familie ist meine Freundin Sonja“, schreibt sie, „wir
sind seit sechs Jahren zusammen. Wir hätten eigentlich schon vor langer
Zeit geheiratet – nur ist das nach den Gesetzen unseres Landes leider
unmöglich.“
Ihre Pflichtverteidigerin Kisljakowa, eine Freiwillige, sagt, die
medizinische und sanitäre Grundversorgung sei in der Haftanstalt nicht
gewährleistet. Es gebe Zellen für bis zu 18 Personen; Warmwasser,
Kaltwasser und Heizung würden zeitweise abgeschaltet.
Skotschilenko gibt sich kühn, entschlossen, kämpferisch. [1][In einem
offenen Brief schrieb sie im Mai 2022 auf Telegram]: „Was auch immer meine
Gegner versuchen mir anzutun, was auch immer sie machen, um mich durch den
Dreck zu ziehen und mich zu demütigen, um mich den unmenschlichsten
Bedingungen auszusetzen, ich werde aus dieser Erfahrung das Strahlendste,
Unglaublichste und Schönste mitnehmen.“
Die Künstlerin hat viele Freunde, die sie in Russland unterstützen, im März
organisierten diese laut der russischen NGO OVD eine Buchpremiere für sie
in Moskau – die dann von der Polizei beendet wurde. Alexei Beloserow, ein
guter Freund Skotschilenkos, wurde dabei verhaftet und zu einer geringen
Geldstrafe verurteilt. Die Rechtsanwaltskammer St. Petersburg versucht
derweil Juri Nowolodsky, einem ihrer Anwälte, den Fall zu entziehen.
Der Fall Dmitri Skurichin
Ähnlich deutlich wie sie hat sich Dmitri Skurichin gegen den Krieg
ausgesprochen. Skurichin, 48, ist ein Geschäftsmann, der in
Russko-Wissozkoje in der Nähe von St. Petersburg lebt und arbeitet. Er
betreibt einen Laden und ein Restaurant – und er ist einer der bekanntesten
Kriegsgegner in der Region.
Auf die Fassade seines Shops hat er in Großbuchstaben „Frieden der Ukraine,
Freiheit für Russland“ gepinselt, darunter die Namen der ukrainischen
Städte, die bislang besonders vom Krieg betroffen waren. Bereits im
Frühjahr 2022 schmückte er sein Geschäft mit ersten Antikriegsbotschaften.
Auf seinem Auto prangt der Schriftzug „Nein zum Krieg“.
Am 24. Februar 2023, als sich der Beginn des Angriffskriegs zum ersten Mal
jährte, kniete Skurichin vor seinem Laden und hielt ein Schild in der Hand:
„Sorry, Ukraine“. Er postete das Foto. Am Tag darauf wurde Skurichin
verhaftet und kam in die Haftanstalt Nummer 6 in Gorelowo in St.
Petersburg. Erst vergangenen Freitag wurde er aus dem Gefängnis entlassen
und zu Hausarrest verurteilt.
Seine Tochter Uljana Skurichina, eine 20-jährige Frau mit schulterlangen
braunen Haaren und Brille, spricht Ende März via Zoom mit der taz. „Mein
Vater war schon immer ein politischer Aktivist“, sagt sie. „Ich erinnere
mich, dass er schon 2012, als das Ausländische-Agenten-Gesetz in Kraft
getreten ist, dagegen protestiert hat.“
## Was zur Hölle …?
Die Reaktionen der Anwohner auf die Antikriegsstatements ihres Vaters? „Als
wir den Schriftzug ‚Ich will Frieden‘ auf das Dach malten, kam eine Frau
angestürmt und sagte: ‚Was zur Hölle tun Sie da? Sie sind ein Feind
Russlands!‘“
Andere hätten ihn dagegen zu seinem Mut beglückwünscht „Für mich ist mein
Vater ein Held“, sagt Uljana. Um sich für Sascha Skotschilenko einzusetzen,
tauschte ihr Vater als Solidaritätsadresse im Mai 2022 auch in seinem Laden
die Preisschilder aus.
Die russischen Behörden hatten ihn schon lange auf dem Schirm. Im September
vergangenen Jahres postete der Aktivist Fotos seines verwüsteten Hauses und
berichtete, Offizielle hätten elf Stunden lang sein Haus bei einer Razzia
durchkämmt. Ende Februar wurde er dann wegen „Diskreditierung“ der
russischen Armee verurteilt.
Die Haftbedingungen in Gorelowo waren laut Uljana „monströs“, er sei
zunächst in einer Zelle mit insgesamt 60 Gefangenen gewesen. Seinen
Mitgefangenen habe er Shakespeare-Dialoge vorgelesen. Zwischenzeitlich war
er mehrere Tage zur psychiatrischen Untersuchung verlegt worden, den
Verwandten wurde keine Auskunft darüber gegeben.
„Meine Mum ist zum Gefängnis in Gorelowo gefahren und wollte ihn besuchen.
Sie sagten ihr nur: ‚Er ist nicht mehr hier‘“, sagt Uljana.
Beide Fälle zeigen, [2][wie Russland mit Kriegsgegner*innen umgeht.]
Skurichin wurde Freitag sehr überraschend aus dem Gefängnis entlassen,
„Wonderful evening!“, schrieb Tochter Uljana der taz.
Künstlerin Skotschilenko kann kaum abschätzen, welches Urteil sie erwartet.
„Das Beste wäre wohl, wenn ich ‚nur‘ drei Jahre bekäme“, schreibt sie…
ist von [3][der Willkür russischer Justizbeamter] abhängig. Am 2. Mai ist
der nächste Verhandlungstag in St. Petersburg.
24 Apr 2023
## LINKS
[1] https://telegra.ph/CHto-by-ni-pytalis-sdelat-so-mnoj-05-11
[2] /Opposition-in-Russland/!5906588
[3] /Leonid-Wolkow-ueber-Russland-und-Nawalny/!5912361
## AUTOREN
Jens Uthoff
Pavel Filipov
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