# taz.de -- Tagebuch über russischen Angriffskrieg: Scham und Schuld | |
> Die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa hat ihr „Tagebuch | |
> vom Ende der Welt“ veröffentlicht. Es ist ein Zeugnis der | |
> Hoffnungslosigkeit. | |
Bild: Roter Platz, Moskau, 12. Juli: Dass das Leben einfach weitergeht, darübe… | |
Es hätte eine Zäsur sein müssen, viel mehr als das, ein allerletzter | |
Weckruf vielleicht. Doch auf den Straßen und Plätzen in Russland war nicht | |
viel davon zu spüren in den Tagen nach dem 24. Februar 2022. | |
„Manchmal wundere ich mich sehr darüber, dass das Leben offensichtlich | |
weitergeht. Die Straßenbahnen fahren. Die Birkenkätzchen sprießen“, | |
schreibt Natalja Kljutscharjowa im April 2022 in ihrem Tagebuch, aber | |
diese seien wie „abgeschnittene Blumen in einer Vase. Eine Zeitlang sehen | |
sie noch aus wie lebendig. Aber in Wirklichkeit haben sie keine Wurzeln | |
mehr, keinen Boden, keine Zukunft.“ | |
Gegen Ende ihres Buchs schildert die Autorin, wie eine Frau ihren Job | |
kündigt, obwohl ihr Mann gerade eingezogen wurde und sie unfreiwillig zur | |
Alleinernährerin ihrer Familie wurde. Sie habe es einfach „nicht mehr | |
ertragen, dass auf der Arbeit alle so tun, als wäre nichts.“ | |
Die Schriftstellerin und Lyrikerin Natalja Kljutscharjowa ist nach dem | |
Angriff auf die Ukraine in Russland geblieben. Sie ist nicht wie so viele | |
Putin-Gegner*innen ins Exil gegangen, sie lebt weiter in Jaroslawl knapp | |
300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Und wie so [1][viele andere | |
Oppositionelle] leidet sie daran, zurückgeblieben zu sein, hadert mit sich, | |
mit der Frage, was man gegen das brutale diktatorische Regime tun kann – | |
und was nicht. | |
## „Endstation Russland“ | |
Von Unbehagen und Ungewissheit, von Scham und Schuld handelt entsprechend | |
das „Tagebuch vom Ende der Welt“, das die Autorin nun in deutscher | |
Übersetzung veröffentlicht – und das natürlich in ihrem Heimatland nicht | |
erscheinen kann. Kljutscharjowa, Jahrgang 1981, hatte zuvor schon die | |
Romane „Endstation Rußland“ (2010) und „Dummendorf“ (2012) auf Deutsch | |
veröffentlicht – damals schwang bei ihr noch ein Stück Hoffnung mit. Davon | |
ist nun nichts übrig. | |
Die Perspektive der russischen Dissident*innen darzustellen, ist das | |
eine Verdienst dieses Buches, es hat daneben aber auch einen großen | |
Mehrwert, zu lesen, wie Kljutscharjowa mit sich selbst, mit ihrer Angst, | |
mit den Worten ringt. | |
In diesem Ringen liegt auch eine Suche nach Sinn in ihrer Arbeit als | |
Schriftstellerin: „Unsere Aufgabe ist es, heil zu bleiben und Zeugen zu | |
sein. Alles zu sehen, alles zu hören, alles festzuhalten. Und dabei nicht | |
den Verstand zu verlieren, nicht an einem Herzinfarkt zu sterben, nicht, | |
nicht, nicht – noch Millionen Mal nicht.“ | |
Dieser Aufgabe kommt sie nach, es sind viele kleine Geschichten, die | |
Kljutscharjowa hier festhält. Sie erzählt, wie eine Journalistin auf | |
Facebook den naheliegenden Vergleich zum Überfall des | |
nationalsozialistischen Deutschland auf Polen zieht („Jetzt weiß ich, wie | |
sich die deutschen Antifaschisten am 1. September 1939 fühlten“). Sie | |
erzählt, wie sie Schreibkurse gibt und wie ein Teilnehmer ein kafkaeskes | |
Russland zeichnet, in dem man bestimmte Worte nicht mehr aussprechen darf. | |
## „Nein zum Krieg“ | |
Dass diese Geschichte nur die Wirklichkeit darstellt, wird auch klar. | |
Nachdem die Losung „Net wojne“ („Nein zum Krieg“) in Russland verboten … | |
und verfolgt wird, wer diese Worte schreibt oder sagt, pinseln | |
Oppositionelle stattdessen die Platzhalter „***.*****.“ an die Wände. | |
Was die Staatsmacht an der Verfolgung nicht hindert: „Bei uns wird man für | |
diese Sternchen längst genauso verhaftet wie für die Worte. Und für ein | |
leeres Blatt, auf dem gar nichts steht“, schreibt Kljutscharjowa. | |
Interessant auch ihre Gespräche mit der befreundeten Psychologin Katja, die | |
sagt, sie seien in Russland ja alle mit dem Imperialen und Bösen | |
aufgewachsen, es habe sich von klein auf in sie eingeschrieben und sie | |
müssten sich davon lösen. | |
[2][Wer seinen Protest kundtut], wird zu teils sehr hohen Haftstrafen | |
verurteilt wie jüngst Wladimir Kara-Mursa. Aber natürlich ist in | |
diktatorischen und terroristischen Regimes ein bequemes Alltagsleben | |
möglich. Das zeigt Kljutscharjowa einmal mehr. | |
Wie aber das stille Weiter-so antifaschistisch denkende Menschen innerlich | |
zerreißen kann, das steht in diesem Buch. | |
26 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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