# taz.de -- Vortrag zu Kolonialismus im Nordpazifik: Das Bewusstsein tiefer Tra… | |
> Inwiefern hängt die Robbenjagd im Nordpazifik bis heute mit russischen | |
> Interessen zusammen? Ein Vortrag im Potsdamer Einstein Forum gab eine | |
> Antwort. | |
Bild: Fröhliche Robbe | |
Dass Russland und die USA Nachbarländer sind, kann man leicht vergessen. | |
Vor allem, wenn wie aktuell der Fokus auf Russlands Kriegstreiben in Europa | |
liegt. Ende des 19. Jahrhunderts stand jedoch diese Grenze, der nur | |
spärlich besiedelte aleutische Inselbogen, im Fokus transnationaler | |
Konflikte, sagt der Osteuropahistoriker Robert Kindler. | |
Das Russische Kaiserreich, Großbritannien, Japan und die USA kämpften um | |
die Hoheitsmacht in den internationalen Gewässern, [1][nachdem 1867 das | |
zaristische Regime Russisch-Amerika, das vor allem Alaska umfasste, an die | |
USA verkaufte.] Kindler ist Spezialist für die Randgebiete des | |
Sowjetimperiums. Er hat mit „Robbenreich“ gerade ein Buch über die jüngere | |
Geschichte der nordpazifischen Inseln veröffentlicht. | |
Im [2][Potsdamer Einstein Forum] erläuterte er am 17. Mai, wie | |
Kolonialismus, Ökonomie und Tierrechte an einem abgelegenen Ort der Welt | |
bis heute zusammenhängen. Rund um die Aleuten, vor allem um die russischen | |
Kommandeurinseln und die US-amerikanischen Pribilof-Inseln, lebt die | |
Pelzrobbe der Art Nördlicher Seebär, deren Fell zum Luxussymbol avancierte. | |
[3][Jack Londons Roman „Der Seewolf“] spielt in diesem Kosmos, wie Kindler | |
in seinem Buch aufzeigt: „Wir warfen die nackten Kadaver den Haien hin und | |
legten die Pelze in Salz ein, damit sie später die schönen Schultern der | |
Frauen der Großstädte schmückten.“ Es war ein „schamloses Schlachten“, | |
niemand aß das Robbenfleisch oder nutzte das Öl, heißt es. | |
## Meilenstein in der Geschichte des Artenschutzes | |
Es war auch die erstarkende Tierrechtsbewegung, die schließlich dafür | |
sorgte, das Aussterben der Pelzrobben zu verhindern. Die „Fur Seal | |
Convention“ von 1911 gilt als Meilenstein in der Geschichte des | |
internationalen Artenschutzes, so Kindler. Dass es nicht allein um die | |
Wahrung der Tierrechte, sondern auch um den Erhalt eines lukrativen | |
Exportguts ging, ist klar. | |
Doch wie vehement sich Aktivisten damals für die Säugetiere einsetzten, | |
überrascht angesichts der blutigen Kriege, die die Menschen auch | |
untereinander weiter ausfochten. Generalstabsoffizier Nikolai Woloschinow, | |
dessen Aufzeichnungen für Kindler eine wichtige Quelle sind, beschreibt den | |
Prozess des Tötens minutiös. | |
Und mit literarischer Genauigkeit: Jene Tiere, die aufgrund ihrer geringen | |
Fellqualität verschont wurden, bedeckten „sorgfältig die toten Körper ihrer | |
getöteten Genossen und wollten nicht von ihnen lassen. Es ist, als würde | |
sich das Bewusstsein tiefer Trauer, das Bewusstsein eines nicht | |
wiedergutzumachenden Unglücks auf ihren lieblichen, guten Gesichtern | |
widerspiegeln, die voller Tränen sind.“ | |
Einige Tierrechtler, sagt Historiker Kindler in Potsdam, hätten auch | |
Parallelen zwischen dem Schlachten der Tiere und [4][der Herrschaft der | |
Festlandrussen über die großteils indigene Inselbevölkerung gezogen]. | |
Aleut:innen, von denen einige dorthin als Arbeitskräfte erst umgesiedelt | |
wurden, seien häufig als brutale Schlächter dargestellt worden, so Kindler. | |
Dabei war es die Festlandpolitik, die das Schlachten förderte und | |
beaufsichtigte. | |
Heute ist die Robbenjagd als Wirtschaftsfaktor im Nordpazifik unbedeutend. | |
In den USA und der EU ist der Handel mit Robbenprodukten verboten, auch | |
Russland hat den Handel eingeschränkt. Dem Großteil der | |
Inselbewohner:innen geht es wie vielen indigenen Gemeinschaften; Jobs | |
gibt es wenige, um den Erhalt der Infrastruktur in Dörfern und Städten | |
kümmert sich kaum jemand. | |
## Symbolkraft des wilden Kamtschatkas | |
Zuletzt gerieten die Kommandeurinseln in die Schlagzeilen, als Einwohner | |
gegen ein von Moskau geplantes Naturschutzgebiet protestierten. Die | |
Kommandeurinseln seien für Russland heute ein Zuschussgeschäft, sagt | |
Kindler. | |
Die symbolische Bedeutung des wilden Ostens gilt es jedoch nicht zu | |
unterschätzen. Unvergessen sind die Bilder von Putins Sommerreise, auf | |
denen der russische Präsident Wale schießt und Bären beobachtet. Die | |
Halbinsel Kamtschatka, unweit der Kommandeurinseln gelegen, sei „der | |
schönste Ort der Welt“, ist sich Putin sicher. In dieses Idyll ließ er noch | |
vor wenigen Wochen eine Interkontinentalrakete einschlagen, die im | |
Nordwesten des Landes startete. | |
19 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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