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# taz.de -- Russische Militärstrategie in der Ukraine: Die Hölle von Charkiw
> Russische Truppen greifen Charkiw gezielt an, um so ukrainische Truppen
> vom Donbass fernzuhalten. Dabei sterben täglich Zivilist:innen.
Bild: Charkiw, 20.4.: Yana Bachek zeigt ein Foto ihrer Eltern, der Vater wurde …
Charkiw taz | Es fühlt sich an wie die Hölle: In der [1][ostukrainischen
Stadt Charkiw] werden die Angriffe seit einigen Tagen immer zahlreicher und
brutaler. Aus dem Norden beschießen russische Truppen die Stadt mit
Panzern, Artillerie, Mörsern und Raketenwerfern. Fast alle Angriffe zielen
mittlerweile auf Wohngebiete im Zentrum. Damit steigt die Zahl der
getöteten Zivilist*innen mit jedem Tag deutlich.
„Du zerbrichst dir den Kopf darüber, wer den Sohn großzieht, wenn einer von
uns stirbt. Du überlegst, wessen Tod wohl,besser' wäre. Bisher habe ich nie
daran gedacht. Doch diese Gedanken machen mich jetzt wahnsinnig“, sagt
Julia, die als Freiwillige arbeitet. Erst im vergangenen Dezember zog sie
in eine Wohnung im Stadtteil „Traktorenwerk“ (CHTS). Am vergangenen Sonntag
schlug in ihrem Hof eine Bombe ein. Nachbar*innen starben, mehrere
Personen wurden verletzt und vor den Hauseingängen gingen Autos in Flammen
auf.
Betroffen sind von den Angriffen vor allem die Stadtteile Saltowka,
Severnaja Saltowka, Novije Doma, CHTS und das historische Zentrum. Angaben
von Militärbeobachtern und Vertreter*innen der Stadtverwaltung zufolge
ist diese veränderte Situation dem Beginn der nächsten Phase des
russischen Angriffskriegs geschuldet – der [2][Schlacht um den Donbass].
Die Angriffe auf die Stadt werden gezielt durchgeführt, um so das
ukrainische Militär zu binden und zu verhindern, dass es in die Gebiete von
Izyum, Slowjansk und Kramatorsk abgezogen wird. Zudem machen die Angriffe
es den ukrainischen Streitkräften unmöglich, die Kommunikations- und
Versorgungswege der russischen Besatzer im Nordosten der Region zu
unterbrechen. Rund 22.000 russische Soldaten sind derzeit in dem Gebiet
rund um die Stadt Izjum positioniert.
Bisher wollte Julia noch nicht fliehen. Und das, obwohl sie bereits drei
Angriffen auf ihr Haus nur knapp entkommen ist. Das erste Mal war sie
gerade bei ihrem Bekannten, als ihr Haus beschossen wurde. Beim zweiten Mal
hatte sie ihrem Mann das durch russische Kalibr-Raketen zerstörte Gebäude
der Charkiwer Regionalverwaltung zeigen wollen, einen Umweg gemacht und ist
so ein paar Minuten später in den Hof zurückgekehrt. Das dritte Mal hatten
Leute, die sich derzeit in der U-Bahn aufhalten, Julia dazu überredet,
Pfannkuchen mit ihnen zu essen. „Alle sagen mir, dass Gott mich beschützt.
Das ist wohl so. Aber vielleicht gibt er mir auch ein Zeichen“, sagt die
junge Frau.
Die Beraterin des Leiters des Regionalrats von Charkiw, Natalja Popowa, ist
sich sicher, dass die russischen Angriffe bewusst Zivilist*innen
treffen sollen. „Die Gesamtzahl der Angriffe auf Wohnviertel hat
zugenommen. In [3][Charkiw] selbst gibt es nur wenige sensible Objekte.
Wohin auch immer sie schießen, die Geschosse schlagen in Bäckereien, Cafés,
Schulen und Kindergärten ein“, sagt sie. Popowa erklärt sich die
barbarischen Angriffe damit, dass die russische Armee seit mehr als 50
Tagen weder Charkiw erobern noch durch die Region Charkiw [4][bis in den
Donbass vordringen] konnte.
Russland wird hysterisch
„Sie versuchen, die Gebiete Donezk und Luhansk abzuschneiden“, sagt sie.
Russland werde hysterisch, da die ukrainische Armee den Schlägen bisher
standhält. „Sie versuchen, unsere Truppen aus der Richtung von Izyum zum
Abzug zu bewegen, indem sie Charkiw so hart und so häufig wie möglich
angreifen“, sagt sie.
Dabei sterben täglich Zivilist:innen. Popowa zufolge seien allein am
vergangenen Dienstag vier Menschen getötet und 14 verletzt worden. Am
vergangenen Samstag seien zwei Menschen getötet und 32 verletzt worden.
„Ich weiß jedoch, dass eine ganze Reihe von Menschen in den Notaufnahmen
der Krankenhäuser gestorben sind, weil sie zu viel Blut verloren hatten
oder ihre Verletzungen zu schwer waren“, sagt sie. Auch unter Kindern gebe
es Opfer. Ein kleiner Junge sei auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Er
sei gerade einmal sieben Monate alt gewesen.
Die Taktik der russischen Truppen sei heimtückisch, sagt sie. Auf den
ersten Angriff folgt meist fünf bis zehn Minuten später ein zweiter an
genau derselben Stelle. Die Russen wissen, dass sie ihre Leute nicht im
Stich lassen. So sei der Rettungsdienst immer sofort da. Und dann erfolge
die nächste Attacke. Doch es seien schon viele Charkiwer*innen und
andere Ukrainer*innen gerettet worden.
Der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der Region Charkiw, Oleg
Sinegubow, geht davon aus, dass die Russen die Schlacht um Charkiw faktisch
bereits verloren hätten. Er ist überzeugt davon, dass es für die russischen
Truppen sehr schwierig sein werde, die Positionen der Ukraine anzugreifen,
die derzeit im Norden und Nordosten des Charkiwer Zentrums Stellung bezogen
haben.
Sinegubow hat unterdessen die Informationen des Verteidigungsministeriums
über die Rückeroberung einiger Dörfer in der Region Charkiw bestätigt. Er
betonte jedoch, dass die Befreiung und das Halten von Positionen zwei
verschiedene Dinge seien. Es seien zwar Fortschritte zu verzeichnen, aber
leider könne man noch nicht sagen, dass es dort sicher sei, weil die Kämpfe
weitergingen.
Auch die Evakuierungen von Menschen aus den Städten Losowaja und Barwinkowe
im Süden des Charkiwer Gebietes gehen weiter. Aus der Region um Losowaja
wurden zwischen 50.000 und 55.000 Menschen in Sicherheit gebracht, rund
20.000 sind geblieben. Die Evakuierung erfolgt mit Zügen, Bussen und
anderen Verkehrsmitteln. Zu einer konzertierten Evakuierung der
Bewohner*innen aus Charkiw sehen die Behörden noch keinen Anlass.
Auch Krankenhäuser werden beschossen
Die Stadt Izyum sei von der russischen Armee eingekesselt, es gebe keine
Möglichkeit, Evakuierungskorridore zu organisieren oder humanitäre Hilfe zu
leisten. Darüber hinaus begehe die russische Armee in Izyum ein weiteres
Kriegsverbrechen – sie versuche, die lokale Bevölkerung für die russische
Armee zu rekrutieren. „Es ist absurd: Der Feind schlägt den Einheimischen
vor, sich den Streitkräften der Russischen Föderation anzuschließen. Das
ist vor allem in Izyum der Fall. Die Menschen haben die Informationen
überrascht zur Kenntnis genommen. Soweit wir wissen, hat sich aber niemand
darauf eingelassen“, sagt Sinegubow.
Die russischen Truppen beschießen Charkiw aus einer Entfernung von 25 bis
40 Kilometern – auch Krankenhäuser. Das sei Terror gegen die
Zivilbevölkerung. Denn die Luftverteidigungssysteme seien aufgrund der
kurzen Flugzeit von Granaten nicht in der Lage, vor Angriffen von
Mehrfachraketensystemen zu warnen, so Sinegubow.
Am Dienstagabend teilt Wolodimir Timoschko, Leiter der Hauptdirektion der
Nationalen Polizei in der Region Charkiw, mit, dass seit dem Beginn der
russischen Invasion in Charkiw mehr als 550 Zivilist*innen getötet
wurden – darunter 26 Kinder.
Julia hat übrigens eine Wohnung in Poltawa gefunden – 150 Kilometer von
Charkiw entfernt. Doch noch zögert sie, ob sie Charkiw vor den orthodoxen
Ostern am 24. April verlassen oder lieber bis zum kommenden Montag warten
soll, um das Fest in ihrer neuen Wohnung zu feiern.
Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung
Aus dem Russischen Barbara Oertel
21 Apr 2022
## LINKS
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[4] /Ukrainekrieg-tritt-in-neue-Phase/!5848707
## AUTOREN
Juri Larin
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