Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Lage im ukrainischen Kramatorsk: Von Raketen und Panik
> Kramatorsk ist Knotenpunkt für die Flucht aus dem Donbass. Nicht erst
> seit Moskaus Attacke auf den Bahnhof ist die Lage dramatisch. Ein
> Ortsbericht.
Bild: Nächster Halt Dnipro: Anisija Worobjewa wartet auf den Bus, der sie aus …
Kramatorsk taz | Jetzt geht sie doch, die 80-jährige Anisija Worobjewa. Sie
steht an einer Haltestelle in Kramatorsk und wartet auf einen Bus, der sie
aus der Stadt bringen soll. In der Ferne sind Explosionen zu hören, aber
Anisija scheint sie gar nicht wahrzunehmen und erzählt von ihrem Leben.
Dann fährt ein weißer Bus mit dem Logo des Dynamo-Fußballklubs vor, sie
steigt ein und fährt nach Dnipro. Dort wird sie von Freiwilligen abgeholt,
bekommt etwas zu essen, kann sich ausruhen und wird dann in einen Zug zu
ihrer Tochter gesetzt.
Schon am 8. April soll Anisija Worobjewa, wie viele andere auch, eigentlich
mit einem Zug aus Kramatorsk evakuiert werden. Sie hat gerade die letzte
Kreuzung vor dem Vorplatz des Bahnhofs überquert, da kommt es zu einer
gewaltigen Explosion. „Jemand hinter meinem Rücken sagte: Oh! Mir knickten
die Beine weg“, ich dachte, ich würde stürzen und versteckte mich hinter
einem Haus. Peng, peng! Ein Mann kam vorbei, voller Blut. ‚Halt jetzt kein
Auto an, geh zu Fuß. Ich komme gerade von dort, bin mit dem Vorortzug
angekommen. Da sind nur noch zerfetzte Körper‘, sagte er“, erzählt Anisij…
An diesem Tag vor über zwei Wochen beschießen russische Truppen gezielt den
Bahnhof von Kramatorsk, wo Tausende Menschen auf ihre Evakuierung warten.
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist Kramatorsk der
größte Knotenpunkt, über den die Mehrheit der Einwohner*innen der
Region das Gebiet Donezk verlässt.
Bei dem Angriff auf den Bahnhof finden 38 Menschen den Tod, 21 weitere
sterben nach wenigen Tagen im Krankenhaus. 110 werden verletzt.
## 50.000 sind geblieben, davon 35.000 Rentner*innen
Seit diesem schrecklichen Ereignis hat Anisija immer wieder Panikattacken.
Sie stammt ursprünglich aus der Gegend von Winniza, hat jedoch ihr ganzes
Leben im Donezker Gebiet verbracht und sie spricht Ukrainisch in dieser
überwiegend russischsprachigen Region. Sie hat in ihrem Leben viele
Schicksalsschläge erlitten. Ihr Mann ist bei einem Autounfall ums Leben
gekommen, eine Tochter an Krebs gestorben. Eine Enkelin ist aus einer
Wohnung im siebten Stock gefallen. Sie hat überlebt, aber schwere bleibende
körperliche Beeinträchtigungen zurückbehalten.
Diese ganzen Erschütterungen haben Anisija krank gemacht. Sie ist
Diabetikerin, leidet unter Nieren- und Magenproblemen – und jetzt noch die
Panikattacken. Sie erträgt keine lauten Geräusche: Hundegebell, Klopfen an
der Tür und erst recht keine Explosionen. „Wenn es losgeht, habe ich das
Gefühl zu ersticken. Ich kann dann nicht mehr sprechen“, sagt sie.
Am 14. März wird Anisijas fünfstöckiges Wohnhaus Ziel eines russischen
Raketenangriffs. Eine weitere Granate schlägt in der Nähe ein. „Da war ein
riesiges Loch. Gott bewahre! Die Leute haben geschlafen, es war zwei Uhr
morgens“, sagt die alte Frau, als ich mit ihr im Taxi an der Stelle
vorbeifahre.
Durch den Beschuss gehen Fenster in den benachbarten mehrstöckigen
Wohngebäuden zu Bruch und die Dächer von nahe gelegenen Privathäusern
werden weggerissen. Die Menschen beginnen, die Region zu verlassen. In
Anisijas Treppenaufgang wohnen außer ihr noch zwei weitere Familien – vor
dem „großen Krieg“ waren es noch zwanzig.
Nach der Explosion am Bahnhof verlässt Anisija die Wohnung wegen neuer
Panikattacken zwei Wochen lang nicht, aber ihre zweite Tochter und
Freiwillige überreden sie schließlich, sich aus Kramatorsk evakuieren zu
lassen.
Die Anzahl derer, die dazu bereit sind, wird immer kleiner, auch wenn die
Stadtverwaltung von Kramatorsk die Bewohner*innen wegen der drohenden
Offensive russischer Truppen inständig darum bittet. Der Bürgermeister
Aleksandr Gontscharenko sagt, dass die Frontlinie jetzt 45 bis 50 Kilometer
von der Stadt entfernt verlaufe.
Die Russen greifen Kramatorsk jeden Tag mit Raketen an. Sie versuchen,
Industrie- und Militäranlagen ins Visier zu nehmen, treffen aber
hauptsächlich Wohngebiete. Sie haben bereits eine Schule, ein Institut, ein
fünfstöckiges Gebäude und ein einstöckiges Wohnhaus zerstört, in dem eine
Großmutter mit ihrer Enkelin lebte. Bei mehr als 50 Wohnhäusern sind alle
Fenster oder ein großer Teil von ihnen zerbrochen, oder es gibt andere
Schäden.
Doch das Schlimmste ist: Es sterben Menschen. Der Beschuss des Bahnhofs ist
das größte Massaker in der Geschichte von Kramatorsk seit dem Zweiten
Weltkrieg. Aber die russischen Raketen kosteten nicht nur da Menschenleben:
Als beispielsweise das fünfstöckige Gebäude zerstört wird, sterben drei
Menschen, 25 werden verletzt. Am 19. April beschießen russische Truppen
einen Ort, an dem Hilfsgüter entladen werden – ein Freiwilliger wird
getötet, zwei weitere werden verletzt.
Aber auch nach all diesen Grausamkeiten bleiben Menschen in der Stadt, sie
wollen einfach nirgendwo anders hin. „In den vergangenen Tagen sind täglich
maximal 300 bis 400 Menschen in die Züge eingestiegen, auf dem Höhepunkt
der Evakuierungen waren es 1.500“, sagt Aleksandr Gontscharenko. Seit dem
Angriff auf den Bahnhof ist der Zugverkehr eingestellt. Stattdessen werden
Evakuierungswillige mit Bussen nach Pokrowsk gefahren, von dort geht es
dann mit dem Zug weiter in die Westukraine.
Schätzungen der Stadtverwaltung zufolge haben mittlerweile 160.000 Menschen
Kramatorsk verlassen. Geblieben sind 45.000 bis 50.000, davon sind rund
35.000 Rentner*innen. „Das sind dieselben Leute, die auch während der
Besatzung durch prorussische Kämpfer der Donezker Volksrepublik vor acht
Jahren in der Stadt ausgeharrt haben. Für sie ist ihr Haus alles, was sie
in ihrem Leben haben. Selbst wenn es zu einer Eskalation und stärkerem
Beschuss käme, würden diese Leute nicht an einen anderen Ort gehen. Sie
fürchten, dass ihre Häuser zum Ziel von Plünderern werden könnten“, glaubt
der Bürgermeister.
## Freiwillige wollen die Stadt verteidigen
Unter denen, die in Kramatorsk bleiben, sind die Freiwilligen der
Kramatorsker Territorialverteidigung. Am 1. Januar dieses Jahres ist in der
Ukraine ein Gesetz in Kraft getreten, wonach in jeder Region und jeder
Stadt eine Territorialverteidigung aufzubauen ist. Das sind Einheiten der
Streitkräfte der Ukraine, zu deren Aufgaben der Schutz ihrer eigenen
Siedlung gehört. Für diejenigen, die aus irgendeinem Grund den regulären
Verteidigungseinheiten nicht beitreten können, ermöglicht das Gesetz die
Schaffung einer Freiwilligenformation.
Diesen Weg hat Wladimir eingeschlagen, der vor dem Krieg Staatsbediensteter
war. Er und andere Mitglieder haben eine Initiativgruppe gegründet, sie
registrieren lassen und in sozialen Netzwerken zum Beitritt aufgerufen.
Dutzende sind dem gefolgt – von 17-jährigen Schülern bis zu über
70-jährigen Rentnern. Der eine hat bereits in der Armee gedient, der andere
hat noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, weiß mittlerweile jedoch damit
umzugehen. „Viele sind durch unsere Ausbildung gegangen. Ein Teil von ihnen
ist natürlich wegen des Krieges nicht mehr hier, aber wir haben immer noch
eine Gruppe, die bereit ist, bis zuletzt zu bleiben, um ihre Stadt zu
verteidigen“, sagt Wladimir.
Spezialisten mit Kampferfahrung schulen Freiwillige im Umgang mit Waffen
und führen taktische Trainings durch. Solange es in Kramatorsk noch relativ
ruhig ist und es in der Stadt selbst keine Kampfhandlungen gibt,
unterstützen die Kämpfer kommunale Versorger, entladen Fahrzeuge, die
Hilfsgüter bringen und helfen, die Folgen von Angriffen zu beseitigen.
Sollten die Kämpfe jedoch die Stadt erreichen, werden die Verteidiger auch
mithelfen, die Angreifer zurückzuschlagen.
Ein junger Freiwilliger mit dem Spitznamen „Okun“ hat vor dem Krieg in
einer Fabrik in der Nachbarstadt Slowjansk gearbeitet. Er war auf dem
Sprung nach Polen, um sich dort einen Job zu suchen. Doch als Russlands
Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar begann, hat er seinen Eltern
gesagt, dass er nirgendwo hinfahren, sondern bleiben werde, um sein Land zu
verteidigen.
„Ich bin für mich zu folgender Schlussfolgerung gekommen: Es braucht
diejenigen, die zuallererst nicht an sich, sondern an das Leben ihrer
Mitmenschen denken. Es gibt eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass in
der Stadt Häuserkämpfe beginnen werden, aber wir werden zurückschlagen –
weil wir Ukrainer sind“, sagt Okun.
Das sieht auch der Bürgemeister Aleksandr Gontscharenko so. „Ich rede viel
mit den Soldaten, sehe, in welcher Stimmung sie sind. Niemand wird
Kramatorsk, Slowjansk oder die Region Donezk aufgeben. Das ist meine
persönliche Meinung: Der Sieg wird bald der unsere sein.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
25 Apr 2022
## AUTOREN
Oleksii Ladyka
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Donbass
Russland
Wladimir Putin
Geflüchtete Frauen
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Saskia Esken
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jüdische Gemeinde in der Ost-Ukraine: Schabbat in Kriegszeiten
Nur noch wenige Menschen leben in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk.
Rabiner Schilin versorgt die Dagebliebenen mit Lebensmitteln.
Schröders „New York Times“-Interview: Esken fordert SPD-Austritt
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat starke Kritik an den Aussagen des
Altkanzlers geübt. Schröder hatte in einem Interview Verständnis für Putin
geäußert.
Russische Propaganda im Ukrainekrieg: Zerrissene Familien
Eine Mutter spricht wie das Staatsfernsehen. Ihr Sohn verlässt das Haus.
Der Krieg löst auch familiäre Konflikte in Russland aus. Drei Protokolle.
Russische Militärstrategie in der Ukraine: Die Hölle von Charkiw
Russische Truppen greifen Charkiw gezielt an, um so ukrainische Truppen vom
Donbass fernzuhalten. Dabei sterben täglich Zivilist:innen.
Mehr russische Angriffe in Ost-Ukraine: Kampf um den Donbass
Die russische Offensive im Osten der Ukraine kommt nur schwer voran.
Russland stoppt zudem die Angriffe auf das Stahlwerk in Mariupol.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.