# taz.de -- Jüdische Gemeinde in der Ost-Ukraine: Schabbat in Kriegszeiten | |
> Nur noch wenige Menschen leben in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk. | |
> Rabiner Schilin versorgt die Dagebliebenen mit Lebensmitteln. | |
Bild: Lange Warteschlangen bei einer Essensausgabe in Kramatorsk | |
Kramatorsk taz | Von der Decke hängen Verzierungen in Form von | |
Davidsternen, gleich daneben die Flaggen Israels und der Ukraine. Der | |
Rabbiner Andrei Schilin sitzt mit einer Gitarre an einem großen Tisch. Er | |
trägt ein Gebet vor – zunächst auf Hebräisch, dann auf Russisch. Danach | |
beginnt er zu singen: „Auf wen sollen wir vertrauen?“ Mit dem Rabbiner | |
sitzen ungefähr noch 30 weitere Personen am Tisch. Einige tragen eine | |
Kippa, andere nicht. Auch Frauen, darunter ältere Damen, und Kinder sind | |
gekommen. Sie klatschen im Rhythmus des Psalms in die Hände. | |
Der Schabbat sowie der letzte Tag des jüdischen Hauptfeiertages Pessach | |
beginnen. Andrei Schilins Vater ist Jude. Er selbst ist in Kramatorsk | |
geboren und aufgewachsen. Anfang der 2000er Jahre und während eines | |
Studiums an einer Bibelschule kam er zum messianischen Judentum. | |
Anhänger*innen dieser religiösen Richtung glauben an Jesus Christus als | |
ihren Messias, zelebrieren jedoch die jüdischen Bräuche. Sie halten den | |
Schabbat ein und feiern die jüdischen Festtage. | |
2010 begannen Andrei und andere Gleichgesinnte, sich zu Hause zu | |
versammeln. Dann organisierten sie in der ganzen Stadt erste | |
Veranstaltungen. Nach und nach schlossen sich immer mehr Menschen, Juden | |
und Nichtjuden, ihrer Gemeinschaft an. Schilin gehört dem | |
überkonfessionellen Rat der Kirchen in [1][Kramatorsk] an – ein | |
Zusammenschluss von 19 Vertretern der orthodoxen, griechisch-katholischen | |
und verschiedener protestantischer Kirchen. Am Denkmal des ukrainischen | |
Dichters Taras Schewtschenko im Zentrum der Stadt beten sie gemeinsam für | |
den Frieden und die Einheit der Ukraine. Zudem unterstützen sie Städte an | |
der Front und organisieren Ferienlager für Kinder, die an der | |
Demarkationslinie leben. | |
Samstags versammelt sich die jüdisch-messianische Gemeinde von Kramatorsk | |
in einem großen Saal, in dem sich früher ein Geschäft befand. Sonntags | |
feiert hier die protestantische „Kirche der Sieger“ ihren Gottesdienst. | |
Doch an diesem Tag, dem Schabbat-Fest, sitzen Vertreter beider | |
Gemeinschaften am Tisch. Wegen des Krieges haben viele Einheimische | |
Kramatorsk verlassen. Schilin sagt, dass rund 80 Prozent der Menschen aus | |
seiner Gemeinde an einen sicheren Ort evakuiert worden seien. | |
Essen verteilen statt beten | |
„Jetzt ist hier alles ganz spartanisch. Normalerweise geht es bei uns am | |
Schabbat sehr lebendig zu. Es gibt Priester, die singen, Tänze und jüdische | |
Lobpreisungen. Wir studieren einige Passagen aus der Tora, essen und | |
trinken Tee zusammen und begehen die Feiertage“, sagt Schilin. In einer | |
Ecke stehen Betten und Pakete mit Hilfsgütern. Hier leben Menschen, deren | |
Unterkünfte beschossen und beschädigt wurden, oder auch solche, deren | |
Wohnungen sich in der Nähe von potenziellen Angriffszielen der russischen | |
Armee befinden. | |
Zu Beginn des Krieges am 24. Februar hatten russische Truppen den örtlichen | |
Flugplatz beschossen, jetzt sind große Fabriken das Ziel, in denen nicht | |
mehr gearbeitet wird. Die örtlichen Behörden warnen die Bürger, dass die an | |
die Fabriken angrenzende Wohngebiete jetzt von Angriffen bedroht seien. | |
Laut Schilin beten die Mitglieder seiner Gemeinde nicht mehr regelmäßig und | |
feiern keine Feste mehr, sie sind nur noch ehrenamtlich tätig. | |
„Seit zwei Wochen leisten wir humanitäre Hilfe. Freunde aus dem Ausland, | |
aus der West- und Zentralukraine, helfen uns und bringen Lebensmittel. Von | |
morgens bis abends, an allen Tagen außer dem Schabbat, geht es rund“, sagt | |
er. Autos kommen mit Hilfsgütern vorbei, einige Leute sortieren, andere | |
verteilen. Sie haben auch ein Fahrzeug, das Bettlägerige und Menschen mit | |
Beeinträchtigungen beliefert und Hilfsgüter in Dörfer bringt, so Schilin. | |
Es gebe Gegenden, wo keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr hinführen und | |
Menschen nicht auf die Straßen gehen können, um einzukaufen. Und in den | |
Geschäften gebe es ohnehin kaum noch etwas. | |
Laut dem Rabbiner haben innerhalb weniger Wochen rund 2.500 Menschen Hilfe | |
erhalten. „Vor allem kümmern wir uns um Familien mit Kindern. Nach dem | |
Beginn des „großen Krieges“ haben in Kramatorsk viele Menschen ihre Arbeit | |
verloren und jetzt [2][kein Geld mehr], aber die Kinder müssen doch ernährt | |
werden“, sagt er. Aber auch Alten und Kranken würde geholfen. | |
Schätzungen der Stadtverwaltung zufolge ist in Kramatorsk nur noch ein | |
Drittel der Geschäfte geöffnet. Die Läden der ukrainischen Ketten „Silpo�… | |
„Varus“, „Posad“ und alle ATB-Märkte sind geschlossen. Im einzigen | |
Supermarkt sind die Regale leer. In Shops, die noch geöffnet haben, sind | |
die Preise massiv gestiegen. Zu Beginn ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit habe | |
es lange Warteschlangen gegeben und es war schwierig, Lebensmittel | |
gleichzeitig an 250 bis 300 Personen zu verteilen. Jetzt laufe das besser, | |
weil die Menschen sich registrieren lassen müssen. | |
Psalme singen im Kriegsgebiet | |
Während der Schabbat-Feier sind durch die Fenster, die mit Holzplatten | |
abgedeckt sind, Sirenen und Geräusche von Kämpfen zu hören, die 40 bis 50 | |
Kilometer von Kramatorsk entfernt stattfinden. Dann explodiert irgendwo | |
etwas, die Alarmanlage eines Autos geht los. Die Leute am Tisch sehen sich | |
an, aber das Fest geht weiter. Zur Gitarre von Andrei singen alle Psalme. | |
Dann stellen Frauen Speisen auf den Tisch – gekochte Kartoffeln, gebratenen | |
Fisch, Pilze, Salate und Wurst. Die Menschen essen, reden, einige Männer | |
scherzen miteinander. Einer schlägt vor, in den kommenden Tagen sich zu | |
treffen und zu grillen. | |
„Wir werden erst einmal so weitermachen. Was als Nächstes passieren wird, | |
ist schwer vorherzusagen, nur der Herr weiß, was passieren wird“, sagt | |
Schilin. Sie haben einen Luftschutzbunker mit mehreren Räumen und einen | |
Benzin-Generator, sollte der Strom ausfallen, so der Rabbiner. „Aber wir | |
hoffen so sehr, dass das alles bald ein Ende hat und es einen Sieg geben | |
wird, den Sieg der Ukraine.“ | |
Aus dem Russischen [3][übersetzt von Barbara Oertel] | |
6 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Oleksii Ladyka | |
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