# taz.de -- Hochzeit in bombardierter Ukraine: „Sieg ist das Ende der Angst“ | |
> Anastasia und Anton Sokolow haben da geheiratet, wo andere flüchten: in | |
> Charkiw, trotz der fortlaufenden Bombardierung durch die russische Armee. | |
Bild: Freude in Zeiten der Trauer: Anastasia und Anton bei ihrer Hochzeitsfeier… | |
In Charkiw fand [1][kürzlich unter russischem Beschuss] eine ungewöhnliche | |
Hochzeit statt. Anton Sokolow (38) arbeitete vor dem Krieg als Zahnarzt im | |
Charkiwer Gebiet, das seit Kriegsbeginn schweren Angriffen ausgesetzt ist. | |
Seine Frau (33), Anastasia Gratschewa, hat bis [2][zum Ausbruch des | |
Krieges] als Krankenschwester im Institut für medizinische Radiologie | |
gearbeitet. Kennengelernt haben sie sich am 28. März 2020, als Anastasia | |
ihren Sohn aus erster Ehe zum Zahnarzt begleitete. Es war Liebe auf den | |
ersten Blick. Auf den Tag genau, zwei Jahre später, machte Anton Anastasia | |
einen Heiratsantrag. Die Hochzeit fand am 2. April statt – nebst einem | |
Foto-Shooting im Hof des Palastes der Arbeit, den russische Truppen kurz | |
zuvor mit einem Kalibr-Marschflugkörper zerstört hatten. Auch während der | |
Hochzeit war Charkiw unter Beschuss. Getraut wurden die beiden in der | |
U-Bahn-Station Universität, dem größten Luftschutzbunker im Zentrum der | |
Stadt. | |
taz: Anastasia und Anton Sokolow,wie habt ihr den ersten Tag des Kriegs | |
erlebt? | |
Anton: Wir waren [3][zu Hause und schliefen]. Ein Anruf meines Freundes | |
weckte uns. Er erzählte ganz aufgeregt, dass in Charkiw der Krieg begonnen | |
habe und wir bombardiert würden. Nastijas Sohn Danil ist Schüler des | |
Kadettenkorps, einer Panzerschule. Wir haben sofort versucht, dort jemanden | |
zu erreichen, um herauszufinden, wie wir den Jungen da rausholen können. | |
Was da wirklich vor sich ging, haben wir zunächst nicht realisiert. | |
Anastasia: Wir brauchten ein paar Tage, um uns auf die Situation | |
einzustellen. Dann war ja auch Danil bei uns. Am dritten Tag war uns klar, | |
dass zu Hause sitzen und im Keller verstecken keine Option ist. Wir haben | |
auf Instagram gepostet, dass Anton als Zahnarzt doch Patient*innen aus | |
nahe gelegenen Stadtteilen notversorgen könne. Auch ich könne mich nützlich | |
machen. Ich kann alle möglichen Verbände machen und Katheter wechseln. Dann | |
habe ich vorgeschlagen, die Bevölkerung mit Ärzt*innen online zu | |
vernetzen. | |
Wusstet ihr sofort, was zu tun ist, und hattet ihr Pläne, Charkiw zu | |
verlassen? | |
Anton: Wir hatten doch alle keine Anweisungen, wie wir uns im Falle eines | |
Kriegs zu verhalten haben. Klar hatten alle Filme gesehen, dass man einen | |
Notfallkoffer packen und sich vorbereiten soll. Die Menschen trieb auch die | |
Frage nach den Finanzen an. Alles Bargeld aufs Konto oder lieber alles | |
abheben und in Dollar umtauschen? Die Aufregung war groß. | |
Anastasia: Überlegungen, zu gehen oder nicht, gab es nur in den ersten | |
Tagen. Dann war klar, dass wir in Charkiw bleiben und unsere Stadt nicht im | |
Stich lassen werden. Mein einziger Gedanke war, meinen Sohn zu überreden, | |
Charkiw zu verlassen. Das war schwierig, doch nach zehn Tagen habe ich es | |
geschafft. Wie durch ein Wunder konnte er nach Prag ausreisen. | |
Findet ihr es normal, dass einige weggehen, andere jedoch in Charkiw | |
bleiben, egal was kommt? In den sozialen Medien ist das ein großes Thema … | |
Anton: Ich verurteile diejenigen, die jetzt andere verurteilen. Jeder muss | |
selbst entscheiden, was er macht. Ich mag es nicht, wenn Leute anfangen, | |
mich zu kritisieren. In den vergangenen Wochen habe ich viele Anrufe aus | |
der Westukraine bekommen. Lose Bekannte, die sich dann anklagend darüber | |
auslassen, dass diejenigen, die in Charkiw geblieben sind, plündern, in den | |
Geschäften stehlen würden und so weiter. Interessant ist, dass dieselben | |
Leute mich Tage später anrufen mit der Bitte, ihrer Mutter zu helfen, die | |
im Charkiwer Gebiet zurückgeblieben ist. Sie habe nichts zu essen, brauche | |
Medikamente und ich solle dort mal vorbeischauen. Eine zwiespältige | |
Situation. | |
Anastasia: Wir versuchen denjenigen, die wegwollen, dabei zu helfen. Das | |
ist deren Entscheidung. Jeder Mensch lebt seinen Stress und seine Trauer | |
auf seine Art. Du steckst in der anderen Person nicht drin. Vielleicht | |
hilft sie von außerhalb sogar mehr, als du, die hier sitzt und dich von | |
Hilfslieferungen ernährst, die man ja auch unseren Jungs zukommen lassen | |
könnte, die ihre Stadt und ihr Land verteidigen. | |
Wann habt ihr beschlossen, euch als Freiwillige zu engagieren? | |
Anton: Bis zum Krieg habe ich das Wort vielleicht drei- oder viermal in | |
meinem Leben benutzt. Als jedoch der erste Schock vorüber war, wollte ich | |
mich der Territorialverteidigung, den ukrainischen Streitkräften | |
anschließen, eine Waffe in die Hand nehmen und die eigene Stadt | |
verteidigen. Eine Maschinenpistole habe ich das letzte Mal in der Schule | |
gesehen, ich weiß gar nicht, ob die echt war. Letztendlich haben wir uns | |
dafür entschieden, da zu helfen, wo wir können. So sind wir auf die Idee | |
mit dem Instagram-Post gekommen. | |
Anastasia: Anton und ich sind der Gruppe 4.5.0 Volunteer Warehouse | |
beigetreten. Am Anfang haben wir Hilfsgüter sortiert und verteilt. Dann | |
haben wir angefangen, Anfragen der Bevölkerung nach Medikamenten zu | |
bearbeiten. Nach ein paar Tagen stellten wir fest, dass die humanitäre | |
Hilfe immer weniger wurde und der Vorrat an Medikamenten kolossal | |
schrumpfte. Anton hat dann eine Videobotschaft aufgenommen und zu | |
Geldspenden aufgerufen. Die Resonanz war ein Wahnsinn. | |
Warum die Entscheidung für den Freiwilligendienst? | |
Anton: Ich habe einen Helferkomplex. Wenn ich jetzt meinem Wunsch nachgebe | |
zu helfen, fühle ich mich gut, soweit das jetzt überhaupt möglich ist. | |
Anastasia: Ich kann nicht untätig herumsitzen, vor allem, wenn ich weiß, | |
dass meine Hilfe gebraucht wird und ich etwas tun kann. Dennoch scheint mir | |
manchmal, dass ich nicht genug mache. | |
Wie hattet ihr euch eure Hochzeit vorgestellt? Wohl eher nicht unter | |
solchen Bedingungen, oder? | |
Anton: Ich bin 38 Jahre alt und war noch nie verheiratet. Ich dachte immer, | |
zum Heiraten sei es zu spät. Ich bin jetzt zwei Jahre mit Anastasia | |
zusammen, doch bis dahin konnte ich mir ein ganzes Leben mit einer Frau | |
nicht vorstellen. Ins Standesamt zu gehen und mir einen Stempel in den Pass | |
drücken zu lassen, das alles war mir fremd. | |
Anastasia: So habe ich mir meine Hochzeit überhaupt nicht vorgestellt. In | |
meiner Fantasie hätte das am Strand stattgefunden, barfuß auf weißem Sand, | |
im Kreis enger Freund*innen, ganz entspannt. Doch dann steckte mir Anton am | |
28. März einen Ring an den Finger und das war das dritte Mal, dass ich seit | |
dem Beginn des Krieges in Tränen ausgebrochen bin. Das hatte ich nicht | |
erwartet. | |
Was war der stärkste Eindruck bei dieser Hochzeit? | |
Anton: Am darauffolgenden Tag konnten wir uns wegen der ganzen Emotionen an | |
überhaupt nichts mehr erinnern. Es fühlte sich an, als hätten wir alles | |
geträumt. Bis wir zum Auto gingen, um die Heiratsurkunde abzuholen. Am | |
eindrucksvollsten war der Ort, die U-Bahn. Ich war vor dem Krieg nicht so | |
oft da. Jetzt dient sie als Luftschutzbunker, und das ist bewegend. Die | |
Züge stehen still und darin sind Menschen, die versuchen, ihr Leben zu | |
organisieren. | |
Was habt ihr geschenkt bekommen? | |
Anton: Es kommen immer noch Geschenke. Gerade erst habe ich eine Tasche | |
bekommen, die wie ein Holster am Bein befestigt wird. Darin sind ein | |
blutstillender Beutel und Schmerzmittel. Ein Geschenk für schlechte Tage. | |
Anastasia hat acht Kilo Kaffee aus verschiedenen Ländern bekommen unter der | |
Bedingung, dass wir nach Ende des Kriegs alle diese Länder besuchen. | |
Anastasia: 52 Packungen L-Thyroxin (Schilddrüsenhormon zur Behandlung einer | |
Schilddrüsenunterfunktion; d. Red.). Das ist ein tolles Hochzeitsgeschenk. | |
Was bedeutet für euch Sieg? | |
Anton: Für mich ist Sieg, wenn sich diese Bastarde von dem Territorium der | |
Ukraine zurückziehen und sie innerhalb der Grenzen ihres Landes eingesperrt | |
werden, sodass sie von dort nie wieder herauskommen. | |
Anastasia: Sieg, das ist Freiheit. Dass unsere Freiheit, unsere Demokratie | |
erhalten bleiben und triumphieren, damit die Menschen wieder nach Hause | |
kommen können. Das ist das Ende der Angst, der Triumph der Liebe, des | |
Lebens. Früher habe ich nie darüber nachgedacht, was Sieg für mich | |
bedeutet. | |
Wann wird dieser Sieg kommen? | |
Anton: Ich wünschte, gestern. | |
Anastasia: Ich hoffe bald. Freunde und Bekannte rufen an, die gegangen sind | |
und schon keine Kraft mehr haben, herumzusitzen und nichts zu tun. Der | |
Drang zu überleben ist eine schreckliche Sache. Sie lastet schwer auf den | |
Menschen, die Charkiw verlassen haben. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter-Stiftung | |
14 Apr 2022 | |
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Juri Larin | |
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