# taz.de -- Gedenken an Natalja Estemirowa: Ihre Mörder laufen frei herum | |
> Die russische Menschenrechtlerin Estemirowa wurde vor zehn Jahren in | |
> Tschetschenien erschossen. Wer sie tötete, ist bis heute unaufgeklärt. | |
Bild: Beerdigung von Natalja Estemirowa im Juli 2009 in Tschetschenien | |
MOSKAU taz | Alexander Tscherkassow hätte eigentlich ein paar Erinnerungen | |
an Natalja Estemirowa zum Auftakt der Gedenkveranstaltung beitragen sollen. | |
Die beiden kannten sich lange, der Experte für Menschenrechte bei Memorial | |
und sie, die „Seele des Büros“ in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. | |
Am 15. Juli 2009 war sie von Unbekannten in Tschetschenien entführt und mit | |
zwei Schüssen getötet worden. Die Leiche wurde später in der | |
Nachbarrepublik Inguschetien gefunden. Doch auch nach zehn Jahren kann die | |
Ermittlungsbehörde weder Auftraggeber noch Mörder nennen. | |
Tscherkessow hatte mit anderen Mitstreitern auf dem Roten Platz am Montag | |
eine Mahnwache gehalten, die an das Verbrechen und die mangelnde | |
Bereitschaft, es aufzuklären, erinnern wollte. Die drei Menschenrechtler | |
standen kaum vor der Kremlmauer, als sie auch schon festgenommen wurden. | |
Die russische Staatsmacht reagiert blitzschnell und effektiv, sobald sie | |
sich bedroht fühlt. Die Demonstranten trugen Estemirowa-T-Shirts und wurden | |
erst wieder freigelassen, als die Gedenkveranstaltung schon im Gang war. | |
## Vielleicht sogar etwas unvorsichtig | |
Oleg Orlow sprang für den Kollegen ein, der bei Memorial für die | |
Brennpunktregionen zuständig ist. Sie alle können viel über Estemirowa | |
erzählen, vorbereiten muss sich keiner. Die damals 51-Jährige war mutig, | |
vielleicht sogar etwas unvorsichtig. | |
Orlow wundert sich, mit welcher Unerschrockenheit sie sich „mit Mördern“ | |
unterhielt, um Vermisste und Entführte im zweiten Tschetschenienkrieg 1999 | |
zu suchen. Dafür schonte sie sich nicht. | |
Viele Journalisten nutzten Estemirowas Kontakte und Kenntnisse | |
Tschetscheniens. Auch Anna Politkowskaja gehörte dazu. Die investigative | |
Journalistin der Nowaja Gaseta war 2006 in Moskau vor der Haustür ermordet | |
worden. Es hätte Estemirowa eine Warnung sein können. | |
Deren Mut sei jedoch einer der Gründe, warum er nach dem Mord das Büro in | |
Grosny übernommen hätte, sagte Titijew auf der Veranstaltung. Bis 2018 | |
hatte er die Niederlassung geleitet. | |
Dann wurde er von Sicherheitskräften des Republikchefs Ramsan Kadyrow wegen | |
vermeintlichen Drogenbesitzes festgenommen. Ein Schauprozess folgte, der | |
erst in diesem März endete. Er wurde schuldig gesprochen, durfte die | |
Strafkolonie aber vorzeitig verlassen. | |
Titijew wird zunächst nicht nach Grosny zurückkehren. Vielmehr will er sich | |
in Moskau mit Tschetschenien befassen. Republikchef Kadyrow hatte schon | |
zuvor klargemacht: Die Arbeit von Menschenrechtlern werde er in | |
Tschetschenien nach Titijews Prozess nicht mehr dulden. | |
Am Montagabend waren viele prominente Bürger- und Menschenrechtler zugegen. | |
Auch Estemirowas Tochter Lana war aus London angereist, wo sie jetzt lebt. | |
Sie war fünfzehn, als ihre Mutter ermordet wurde. Zurzeit schreibt sie | |
gerade ein Buch über sie. Und über die Ängste einer Tochter, die den | |
Verlust der Mutter ständig fürchten muss. „Bitte bleib am Leben“, heißt … | |
Kapitel, das die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa vorlas. Totenstille | |
erfüllte den Raum. | |
17 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
## TAGS | |
Russland | |
Tschetschenien | |
Menschenrechte | |
Russland | |
Russland | |
Tschetschenien | |
Memorial | |
Tschetschenien | |
Russland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Opposition in Russland: Furchtlos und bedroht | |
Die Investigativjournalistin Elena Milaschina wird von Tschetscheniens | |
Premier Ramsan Kadyrow verbal attakiert. Das kann tödlich enden. | |
Opposition in Russland: Justiz-Farce geht weiter | |
Der Menschenrechtler Juri Dmitrijew steht ab Montag wieder vor Gericht. Der | |
Historiker wird der Herstellung von Kinderpornografie beschuldigt. | |
Tschetschenischer Oppositioneller: Abschiebung in die Gefahr | |
Bayern will den tschetschenischen Oppositionellen Mochmad Abdurachmanov zur | |
Ausreise nach Russland zwingen. Menschenrechtler sind alarmiert. | |
Schauprozess in Tschetschenien: Vier Jahre Lagerhaft für Bürgerrechtler | |
Ujub Titijew, der letzte Chef der Menschenrechtsgruppe Memorial, stand | |
wegen angeblichen Drogenbesitzes vor Gericht. Nun wurde er verurteilt. | |
Schauprozess gegen Bürgerrechtler: Tschetschenisches Rollenspiel | |
In der Kaukasusrepublik steht Ujub Titijew wegen Drogenbesitzes vor | |
Gericht. Zufällig war er der Chef der Menschenrechtsgruppe Memorial. | |
Opposition in Russland: Trikolore mit Einschusslöchern | |
Tausende gedenken am Sonntag des Mordes an dem Regimekritiker Boris Nemzow | |
im Februar 2015. Für Menschenrechtler ist das bereits ein Erfolg. |