| # taz.de -- Osteuropa-Expertin zu Russlandpolitik: „Russland ist nicht unser … | |
| > Lange war das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ein gutes. | |
| > Franziska Davies erklärt, warum die Interessen von Ostmitteleuropa | |
| > vergessen wurden. | |
| Bild: Das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Treptower Park erinnert an den Sieg … | |
| taz: Frau Davies, [1][die deutsche Russlandpolitik] war in den vergangenen | |
| Jahrzehnten vor allem dadurch gekennzeichnet, auf Russlands Interessen | |
| einzugehen. Sicherheitsbedenken der Nachbarstaaten wie der Ukraine oder der | |
| baltischen Länder schienen vernachlässigbar zu sein. Haben Sie als | |
| Historikerin eine Erklärung dafür? | |
| Franziska Davies: Man las ja selbst Dinge wie „unsere russischen Nachbarn“. | |
| Russland ist nicht unser Nachbar. Aber war es mal. Um genauer zu sein – das | |
| Russische Reich seit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts. Das | |
| gesamte 19. Jahrhundert war davon geprägt, dass das Russische und das | |
| Deutsche Reich zwei imperiale Mächte im östlichen Europa waren, die zwar | |
| Konflikte hatten, sich aber als ebenbürtige Mächte anerkannt haben. | |
| Verbunden waren sie durch eine antipolnische Politik, weil sie ein | |
| Interesse daran hatten, dass Polen nicht wieder zu einem eigenen Staat | |
| findet. Man sieht eine gewisse Fortsetzung dieser Tradition, dann im Pakt | |
| zwischen Hitler und Stalin, im August 1939. Dass es eine Tradition der | |
| deutsch-russischen Verständigung auf Kosten Ostmitteleuropas gibt, wird so | |
| in den baltischen Staaten, in Polen und auch in Teilen der Westukraine | |
| erinnert. | |
| Wurde also auch die imperiale Politik Putins mit imperialem Denken von | |
| deutscher Seite unterstützt? | |
| [2][Die Ukraine ist Zentrum Putins imperialer Obsession]. Lange Zeit ist | |
| das von vielen Deutschen nicht gesehen oder sogar als legitim erachtet | |
| worden. Es wäre verkürzt zu sagen, dass das nur aufgrund einer gemeinsamen | |
| deutsch-russischen imperialen Tradition in Ost- und Mitteleuropa zu | |
| erklären ist. Gerade für Menschen, die der Generation von Bundespräsident | |
| Frank-Walter Steinmeier oder Matthias Platzeck angehören, gibt es eine | |
| tiefe Sehnsucht der Versöhnung mit Russland aus der Erfahrung des Zweiten | |
| Weltkriegs heraus. Diese Haltung übersieht aber, dass nicht nur Russland | |
| Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war, sondern auch Länder wie | |
| Belarus und die Ukraine. Außerdem spielten wirtschaftliche Interessen eine | |
| große Rolle. | |
| Welches Bild von Osteuropa herrschte im westlichen Europa lange Zeit vor? | |
| Es gibt eine Tradition, das östliche Europa mit Rückständigkeit und | |
| Unzivilisiertheit zu verbinden. Diesen Diskurs gab es im 19. Jahrhundert | |
| nicht nur in Bezug auf Ostmitteleuropa, sondern auch in Bezug auf Russland. | |
| Einerseits wurde Russland mit Rückständigkeit gleichgesetzt. Andererseits | |
| gab es eine breite Rezeption der russischen Literatur von Dostojewski und | |
| Tolstoi – und es gab die Konstruktion der russischen Seele, eine | |
| Romantisierung des Landes. | |
| Gerd Koenen hat diese Ambivalenz des deutschen Russlanddiskurses für die | |
| Zeit von 1900 bis 1945 den Russland-Komplex genannt. Im 20. Jahrhundert | |
| wiederum ist die Russifizierung der Sowjetunion für die deutsche | |
| Russlandpolitik zentral. Der multiethnische Charakter der Sowjetunion wurde | |
| ausgeblendet. Das spiegelt sich unter anderem im Gedenken an den Zweiten | |
| Weltkrieg wider: Belarus und die Ukraine, Hauptschauplätze des Krieges in | |
| Osteuropa, tauchten kaum auf. | |
| Dabei sind die deutschen Verbrechen in Osteuropa gut erforscht. | |
| In Westdeutschland war der Vernichtungskrieg im Osten stark verbunden mit | |
| den Millionen Wehrmachtssoldaten, die sich daran beteiligt haben. Die | |
| Erinnerung an den Krieg nach 1945 wurde von denjenigen getragen, die | |
| biografisch mit ihm verbunden waren und sich entweder als Opfer eines | |
| sinnlosen Krieges von Hitler gesehen haben oder als solche, die gegen den | |
| Bolschewismus gekämpft haben und damit letztlich für eine gerechte Sache. | |
| In Ostdeutschland hingegen waren bestimmte Aspekte des Vernichtungskrieges | |
| teilweise bekannter. | |
| Da man sich aber nicht als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen | |
| Deutschlands gesehen hat, sondern als antifaschistischen Staat, wurde die | |
| deutsche Verantwortung externalisiert. Gegen Widerstände erkämpften die | |
| nachgeborenen Generationen, dass die Deutschen die Verantwortung für den | |
| Holocaust übernehmen. Aber die Erinnerung an den Vernichtungskrieg, der den | |
| Holocaust überhaupt erst möglich gemacht hat, blieb davon merkwürdig | |
| losgelöst. Hier ist Stalingrad der zentrale Erinnerungsort – | |
| bezeichnenderweise ein Ort auch deutschen Leidens. | |
| Die Erfahrung Ostmitteleuropas hat es bislang nicht geschafft, die | |
| Deutungshoheit eines russozentrischen Bildes der Geschichte Osteuropas zu | |
| durchbrechen. Wurde sie zu lange ausgeklammert? | |
| Für Länder wie Polen, die baltischen Staaten und die heutige Westukraine | |
| ist der Hitler-Stalin-Pakt und dann die Erfahrung zuerst der deutschen und | |
| dann der sowjetischen Besatzung zentral. Für sie war – anders als für die | |
| wenigen überlebenden Jüdinnen und Juden – der Einmarsch der Roten Armee | |
| keine Befreiung, sondern eine neue Besatzung. Die von Deutschland so | |
| herbeigesehnte Aussöhnung mit Russland ist für diese Länder so lange keine | |
| Option, bis Russland die politische Verantwortung für die sowjetischen | |
| Verbrechen übernimmt und seine aggressive Politik einstellt. | |
| In den 1990er Jahren gab es Schritte in diese Richtung, in den letzten | |
| Jahren natürlich gar nicht. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch in | |
| Ostmitteleuropa oft Teile der Geschichte ausgeblendet werden, die eigenen | |
| nationalen Narrativen entgegenstehen. Das gilt besonders im Hinblick auf | |
| die Kooperationsbereitschaft der lokalen Bevölkerung mit den Deutschen bei | |
| der Vernichtung der Jüdinnen und Juden. | |
| In deutschen Medien war nach der Annexion der Krim immer wieder zu lesen, | |
| die Ursprünge der Ukraine seien künstlich. Dem Land wurde seine Existenz | |
| abgesprochen. Auch in der heutigen Betrachtung des Ukrainekrieges lassen | |
| sich solche Aussagen in Teilen wiederfinden. | |
| Diese Kategorie von Künstlichkeit ist völlig unbrauchbar. Jeder Staat, jede | |
| Nation ist künstlich. Was ist denn bitte ein natürlicher Staat? Und selbst | |
| wenn die Ukraine 1991 vom Himmel gefallen wäre, hätte sie Anspruch auf die | |
| Unverletzbarkeit ihrer Grenzen. Das wird aus gutem Grund inzwischen durch | |
| das Völkerrecht geregelt und nicht durch die Geschichte. Diesen Unwillen, | |
| die Ukraine als Subjekt der eigenen Geschichte zu sehen, sieht man bis | |
| heute. | |
| Menschen, die Ukrainer auffordern, aufzuhören zu kämpfen oder die davon | |
| sprechen, dass wir, der Westen, Russland ein Angebot machen sollen, haben | |
| immer noch nicht erkannt, dass der entscheidende Akteur die Ukraine ist. | |
| Wir sind überhaupt nicht in der Lage, Putin Angebote zu machen. Ich finde | |
| es falsch, vom sicheren Deutschland aus, geschützt durch ein | |
| Verteidigungsbündnis, dessen Aufnahme der Ukraine nicht zuletzt auf | |
| deutschen Druck hin verweigert wurde, Ratschläge zu erteilen. Was passiert, | |
| wenn die russische Armee die Ukraine besetzt, haben wir ja in Butscha | |
| gesehen. | |
| Der Ukraine würde also noch weiteres Leid dieser Qualität drohen. | |
| Die Vorstellung, dass, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind, der Krieg | |
| vorbei ist, stimmt nicht. Das hat die historische Forschung gezeigt. Ein | |
| Beispiel wäre das deutsche Besatzungsregime in der Ukraine während des | |
| Zweiten Weltkriegs. Da ist die Zahl der Toten höher nach dem Ende der | |
| Kampfhandlungen gewesen: Das Morden, das Versklaven, der Terror gingen | |
| weiter. | |
| Die Bundesregierung liefert Waffen an die Ukraine und verhängt Sanktionen | |
| gegen Russland. Wie bewerten Sie diesen Wendepunkt in der deutschen | |
| Russlandpolitik? | |
| Es hat den Krieg gebraucht, damit mehrheitlich Konsens ist, dass wir | |
| Verantwortung tragen. Ausreichend ist die Unterstützung der Ukraine noch | |
| nicht. Es ist wichtig, dass ehrlich aufgearbeitet wird, warum fast alle | |
| Parteien, außer den Grünen, Putin so lange falsch eingeschätzt haben. Ich | |
| finde es bezeichnend, dass der einzige, der das gemacht hat, Matthias | |
| Platzeck war. Er ist vom Vorsitz des deutsch-russischen Forums | |
| zurückgetreten. Es reicht eben nicht zu sagen, wir wurden getäuscht. | |
| So wie es Bundespräsident Steinmeier vergangene Woche getan hat. | |
| Steinmeier sollte persönlich reflektieren, wie das passieren konnte und die | |
| Öffentlichkeit daran teilhaben lassen. Ich glaube ihm, dass es sein | |
| aufrichtiges Anliegen war, eine Aussöhnung mit Russland zu erreichen. Wenn | |
| das aber dazu führt, die Aggressoren der Gegenwart nicht zu erkennen, dann | |
| ist das die falsche Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. Putins Machtantritt | |
| ist untrennbar verbunden mit dem zweiten Tschetschenienkrieg. Was er in | |
| Grosny und später in Aleppo gemacht hat, wie er die Unterdrückung im | |
| eigenen Land vorangetrieben hat, seine Verstrickungen als | |
| Ex-Geheimdienstler in kriminelle und oligarchische Strukturen – alles lange | |
| bekannt. Warum daraus aber keine politischen Konsequenzen erfolgt sind, | |
| damit müssen wir uns auseinandersetzen. Der Bundespräsident sollte mit | |
| gutem Beispiel vorangehen. Das wäre auch ein wichtiges Signal an die | |
| Länder Ostmitteleuropas, die diese Debatten genau wahrnehmen und die kaum | |
| noch Vertrauen in Deutschland haben. | |
| 12 Apr 2022 | |
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| Erica Zingher | |
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