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# taz.de -- Slawistik an der Universität: Mehr als nur Russisch
> Die deutsche Slawistik ist auf Russland fixiert. Damit reproduziert sie
> ein Narrativ, das die Vielfalt der slawischen Sprachen und Kulturen
> unterdrückt.
Bild: Solidaritätsbekundung auf dem Dach des Bayerischen Staatstheaters
Die Meldung über den Boykottaufruf russischer Musiker, Künstler und
Schriftsteller rührt an grundlegende Fragen der Freiheit der Kunst, fragt
nach ihrer Moral oder Unmoral. Diese Fragen schließen die Ukraine, [1][ihre
Kunst und Literatur] mit ein: Wie nehmen wir die Ukraine wahr? Was wissen
wir von ihr jenseits der Kriegsberichterstattung? Und vor allem – was
wissen wir alles nicht von diesem in vielerlei Hinsicht großartigen Land,
dessen Bürger gerade für ihre [2][Freiheit und Demokratie sterben]?
Deshalb ist die Debatte über die russische Kultur verfehlt, um sie geht es
jetzt nicht. Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir zu konstruktiven
Betrachtungen über die Ukraine selbst gelangen, ohne dabei den Umweg über
Russland zu nehmen. Zum Beispiel können Verlage und andere Institutionen
Programme zur Förderung ukrainischer Literatur, Kunst und Wissenschaft
auflegen.
Zur Literatur: Ja, es gibt vielleicht ein gutes Dutzend ukrainischer
Autorinnen und Autoren, die in den letzten 30 Jahren ins Deutsche übersetzt
wurden, zumeist in österreichischen Verlagen. Von den deutschen
Großverlagen hat bisher Suhrkamp vier Autoren veröffentlicht, davon sind
zwei (Andruchowytsch und Zhadan) fest im Programm. In den letzten zwei,
drei Jahren kann man die erfreuliche Tendenz beobachten, dass sich kleine
und mittelgroße Verlage ukrainischer Literatur annehmen und tolle Bücher
veröffentlichen, von denen das Feuilleton oft schwärmt.
Für die Herausgabe dieser Bücher benötigen die Verlage vielfach
Fördermittel, und auch hier gibt es eine erfreuliche Tendenz in der
Übersetzungsförderung. Wenn man dann aber in die Buchläden blickt, wird man
selbst jetzt noch selten auf ukrainische Titel stoßen. All das soll kein
Gejammer sein, sondern eine Beschreibung des Ist-Zustands.
## Warum hat die Ost-Politik seit den 2000ern versagt?
Die Gesellschaft in Deutschland wie in ganz Europa wird in den kommenden
Jahren gezwungen sein, sich mit der Ukraine und ihren Menschen
auseinanderzusetzen; mit Flüchtlingen, [3][die alles verloren haben]. Und
wir werden uns selbst fragen müssen, warum etwa die deutsche Ost-Politik
seit den 2000er Jahren insgesamt so versagt hat, vor allem nach der
Krim-Annexion – man mag sich lieber nicht daran erinnern, dass die
CDU/SPD-Regierung 2014 den Baubeginn Nord Stream 2 absegnete.
Der Blick der deutschen Öffentlichkeit auf Osteuropa stand bisher im
Schatten des vermeintlichen russischen Riesen, sodass die Nachbarländer
unsichtbar wurden. Deswegen schreiben sich, wenn es um die Ukraine,
Belarus, Polen und andere postsowjetische Länder geht, tradierte (oft
negative) Stereotype und Denkblockaden, ja eine geradezu
kulturkolonialistische russische Sicht in unserer Wahrnehmung fort!
Ein anderes deutsches Beispiel: In universitären Strukturen findet sich
unter der Bezeichnung „Ostslawistik“ keinerlei gesicherte strukturelle
Verankerung der Ukrainistik (mit Ausnahme einer halben Professur an der
Viadrina in Frankfurt (Oder)) oder Belarusistik.
Dies verwundert umso mehr, da inzwischen in vielen gesellschaftlichen
Bereichen eine Sensibilisierung für die Macht sprachlicher Bezeichnungen
vorhanden und mit der Verwendung einer gendergerechten Sprache im Alltag
angekommen ist. So fand auch die Umbenennung von Slawistenverband zu
Slawistikverband statt. Im Hinblick auf die Ostslawistik wird freilich vor
allem in den Literatur- und Kulturwissenschaften fast ausschließlich
Russistik betrieben.
## Ukrainisch und Belarussisch bleiben unsichtbar
Die beiden anderen ostslawischen Sprachen (Ukrainisch, Belarussisch)
bleiben in der Regel unsichtbar. Zugespitzt könnte man sagen, die
Bezeichnung Ostslawistik schreibt überkommene Stereotype fort, indem zum
Beispiel unter Sowjetliteratur hierzulande bisher Literatur in russischer
Sprache verstanden wurde. In der Slawistik sollte eine Reflexion der
eigenen institutionellen Strukturen einsetzen.
Tatsache ist, dass ohne institutionelle Infrastruktur die vielen und
zweifellos wertvollen Forschungsarbeiten in Ukraine- und Belarus-Studien
nicht in die breite Öffentlichkeit oder gar in die Politik hineinwirken
können, also weiterhin unsichtbar bleiben. So schreibt sich die
Unwissenheit über die Ukraine als „Terra incognita“ fest. Es wäre Aufgabe
der Slawistik, nicht ständig und immer wieder in allen Instituten die
Ostslawistik-Professuren [4][in der Literaturwissenschaft] mit Russisten zu
besetzen.
Die deutsche Slawistik ist nicht groß und sie schrumpft, weil die Finanzen
knapp sind. Sie wäre aber mit einer vernünftigen Personal- und
Nachwuchspolitik in der Lage, die Vielfalt an Kulturen der slawischen
Länder in Forschung und Lehre abzubilden. Das käme dann auch der Russistik
zugute.
Auch Politiker und Politikberater in Ministerien und sogenannte Thinktanks
können durch Literatur und Kunst ihr Hintergrundwissen erweitern und somit
bei Entscheidungen kompetent agieren. Das ist kein naives Gerede. Literatur
entwirft und reflektiert im Modus der Fiktion gesellschaftliche, politische
und kulturelle Szenarien.
Ein Blick in russische, ukrainische und belarussische Texte der letzten
Jahrzehnte könnte in der jetzigen Situation erhellend wirken. Politik und
Ihre Beratungsinstanzen sollten sich ihrer gestrigen Verhaltensmuster und
Denkblockaden bewusst werden – auch dazu kann ein wenig Lektüre beitragen.
Frau Baerbock sagte am Morgen des russischen Angriffs auf die Ukraine den
richtigen Satz „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.“ Wir müssen uns
neu orientieren.
Genau wie die riesige ukrainische Exilcommunity, der wir in den nächsten
Tagen, Wochen und Jahren begegnen werden. Da sollten wir im eigenen
Interesse die Geschichte und Kultur der Geflüchteten kennen. Nicht nur aus
kurzfristiger Betroffenheit muss es langfristig ein Bildungsangebot für
alle geben, die sich für das Denken, die Literatur und Sprache der Ukraine
interessieren.
12 Apr 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Alexander Kratochvil
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