# taz.de -- Ukrainischer Autor über Folter und Krieg: „Ganz Russland ist am … | |
> Stanislaw Assejew saß zwei Jahre im Folterknast in Donezk. Das | |
> Gefängnissystem Russlands diene dazu, Menschen zu brechen. Es steht | |
> modellhaft für das Land. | |
Bild: Ukrainische Soldaten feuern mit einem Mörser auf die angreifende russisc… | |
taz: Herr Assejew, Sie saßen von 2017 bis 2019 im Donezker Foltergefängnis | |
Isoljazija ein. Wenn Sie sich diesen Ort heute in Erinnerung rufen, woran | |
denken Sie dann? | |
Stanislaw Assejew: [1][Ich halte mir nicht die Folter vor Augen, die ich | |
dort erlebt habe. In erster Linie sehe ich heute meine Arbeit darin, über | |
das System der russischen Foltergefängnisse aufzuklären.] Ich versuche mich | |
darauf zu konzentrieren, was wir tun können, um die Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit nachzuweisen und um weitere in Zukunft zu verhindern. | |
taz: Deshalb haben Sie die Organisation Justice Initiative Fund gegründet, | |
die Belege für diese Verbrechen sammelt. | |
Assejew: Ja. Unsere Hauptaufgabe ist es, detaillierte Informationen über | |
Menschen zu bekommen, die diese Verbrechen begangen haben. Wir brauchen die | |
Namen der Täter, müssen möglichst viel über ihre Funktion und ihre Taten | |
zusammentragen, um sie eines Tages zur Rechenschaft ziehen zu können – wann | |
immer das sein wird. | |
taz: Sie haben in einem Buch beschrieben, was Sie im Isoljazija ertragen | |
mussten, Prügel, Vergewaltigungen und Folter mit Strom waren alltäglich. | |
Gehen Sie davon aus, dass es in diesem Knast aktuell so zugeht wie damals? | |
Assejew: Es ist zu vermuten. Wir sehen ja, in welchem Zustand unsere | |
Gefangenen aus anderen russischen Gefängnissen rauskommen. Das ganze | |
Gefängnissystem Russlands ist errichtet, um Menschen zu brechen. Für mich | |
steht es modellhaft für das heutige Russland. | |
taz: Sie sprechen bewusst von „Konzentrationslagern“. Warum? | |
Assejew: Es ist – besonders in Deutschland – wichtig zu betonen, dass ich | |
damit nicht Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka oder Sobibor meine. | |
Ich spreche von Konzentrationslagern, wie Deutschland sie von 1933 an | |
errichtet hat und in denen das NS-Regime politische Gegner:innen, Jüdinnen | |
und Juden, „Asoziale“ und andere „Systemfeinde“ gefangen hielt. Diese A… | |
Lager existierten auch schon früher, und sie existierten nach dem „Dritten | |
Reich“ in der Sowjetunion, in Nordkorea, in Syrien, um nur einige Orte zu | |
nennen. Russland sperrt seine inneren und äußeren Feinde noch heute in | |
solche Lager. | |
taz: Sind Sie deshalb nach Syrien gereist, um sich das Lager in Saidnaya | |
nach Ende des Assad-Regimes anzusehen? | |
Assejew: Ja. Was ich in Saidnaya gesehen habe, bestätigt für mich, dass | |
Bosheit und Grausamkeiten keine ethnische Zugehörigkeit kennen, sondern | |
dass beides über Volksgruppen und Ländergrenzen hinweg vorkommt und auch so | |
bekämpft werden muss. | |
taz: Sie erheben Einspruch, wenn man von „Putins Krieg“ spricht. Warum? | |
Assejew: Weil ganz Russland am Krieg beteiligt ist. Laut Schätzungen des | |
britischen Verteidigungsministeriums sind etwa 900.000 russische Soldaten | |
seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs verletzt oder getötet | |
worden. Wohl jeder Russe/jede Russin wird einen Verwandten haben, der am | |
Krieg gegen die Ukraine mitwirkt. Dazu gibt es einen riesigen repressiven | |
Apparat im Innern, zum Beispiel den Sicherheitsdienst, die Russische Garde, | |
die Polizei. [2][Und dann auch noch die Waffenindustrie. Sehr viele | |
Menschen tragen diesen Angriffskrieg mit. Es macht daher keinen Sinn, von | |
„Putins Krieg“ zu sprechen]. | |
taz: Sie waren bis vor einem halben Jahr selbst bei den ukrainischen | |
Streitkräften und wurden beim Einsatz verwundet. Was ist Ihnen passiert? | |
Assejew: Ich erlitt zwei Verwundungen. Die erste war eine | |
Gehirnerschütterung während eines Angriffs der Russen auf unsere | |
Stellungen, die uns eine Woche lang mit Präzisionsbomben, einem Panzer, | |
Mörsern und Drohnen beschossen hatten. Die zweite Verwundung war ein | |
Granatsplitter aus einer Mine im Nacken und in der Brust. Sie war | |
schwerwiegender, deshalb musste ich eineinhalb Monate in Reha. Während ich | |
im Krankenhaus in Kyjiw lag, wurde unser Bataillon aufgrund von Verlusten | |
an der Front aufgelöst. Danach wurde ich aus der Armee entlassen, weil ich | |
in Gefangenschaft gewesen war. | |
taz: Wie bewerten Sie den aktuellen Zustand des ukrainischen Militärs? | |
Assejew: Die Lage der ukrainischen Armee ist schwierig, weil es zu wenig | |
Infanteristen gibt und die Eingezogenen zu schlecht ausgebildet worden | |
sind. Rekruten sammeln den Großteil ihrer Erfahrungen in Kampfbrigaden, | |
während sie in Ausbildungszentren hauptsächlich Zeit und Gesundheit | |
verschwenden. | |
taz: Sie haben zuletzt Kritik an der politischen und militärischen Führung | |
der Ukraine geübt. Was werfen Sie den Verantwortlichen vor? | |
Assejew: Im Laufe der Jahre der groß angelegten Invasion hat sich die | |
ukrainische Armee von einer brillanten Kampftruppe mit horizontalen | |
Verbindungen in eine träge sowjetische Armee mit viel Bürokratie und | |
Karrierismus verwandelt. Die militärisch-politische Führung lehnt Kritik ab | |
und unterdrückt sie, die Initiativen talentierter Untergebener werden | |
torpediert, innerhalb des Verteidigungsministeriums und im ganzen Land | |
findet Korruption statt – diese Probleme werden wir nicht überwinden, wenn | |
wir sie leugnen. | |
taz: Haben Sie konkrete Beispiele für die stärkere Hierarchisierung? | |
Assejew: Die zieht sich durch die ganze Armee. Die Ausbildungszentren | |
werden meist von Offizieren geleitet, deren Karriere gescheitert ist – der | |
Ausbildungsprozess dort basiert deshalb auf 15-Stunden-Schichten in der | |
Küche und der Reparatur sowjetischer Gebäude und nicht auf Kampfeinsätzen. | |
An der Front hatte unser Bataillonskommandeur Angst, dem Brigadekommandeur | |
die tatsächliche Zahl der Kämpfer in der Einheit mitzuteilen und über | |
ihre schlechte Moral zu berichten. Berichte werden immer positiv verfasst, | |
um die Karrieren nicht zu ruinieren, was nichts mit der Realität in den | |
Schützengräben zu tun hat. Jede Initiative von unten – seien es | |
Infanteriefahrzeuge von Freiwilligen oder Drohnen – erfordert langwierige | |
Genehmigungen durch eine Vielzahl von Beamten und viel Papierkram. | |
taz: Sieht die politische Führung diese Probleme nicht? | |
Assejew: Präsident Selenskyj glaubt wohl, der Sieg sei abhängig von | |
US-Raketen, die uns nicht in der erforderlichen Menge zur Verfügung | |
gestellt werden, ohne zu bemerken, dass die Front aufgrund des Mangels an | |
Infanterie zusammenbricht. | |
taz: Bei dem Rohstoffdeal mit den USA hat Selenskyj aber eine gute Figur | |
abgegeben. | |
Assejew: Was den Deal über seltene Erden angeht, sehe ich bislang | |
erhebliche Vorteile für die Ukraine – zumindest wenn er genau so umgesetzt | |
wird, wie in den offiziellen Dokumenten beschrieben. | |
taz: Was kann die Ukraine denn tun, um den Zusammenbruch der Infanterie zu | |
verhindern? | |
Assejew: Wir brauchen ein Gesetz, das private Militärunternehmen | |
reguliert. Wir müssen auch die Laufzeit für Verträge von Infanteristen – | |
zum Beispiel ein Jahr – mit einem festen Satz von 5.000 US-Dollar pro Monat | |
festlegen. Es braucht auch eine professionellere Ausbildung kleiner | |
Infanteriegruppen. Es ist nur natürlich, wenn die Menschen nicht in den | |
Krieg ziehen wollen, ohne dass ihnen klare Fristen für den Austritt aus der | |
Armee genannt werden; ohne Rotation und mit einer fragwürdigen Bezahlung, | |
die vom Einsatzort des Infanteristen abhängt. | |
taz: Sie kommen aus Donezk. Haben Sie derzeit noch Kontakt dorthin? | |
Assejew: Ich habe momentan keinen Kontakt nach Donezk. Ein kleiner Teil | |
meiner Familie lebt in Makijwka in der Nähe von Donezk, unter anderem meine | |
Großmutter. Mit ihr spreche ich manchmal. Sie ist alt und auf | |
Sozialleistungen angewiesen. Russland zwingt alle, die dort leben, die | |
russische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Erst vor Kurzem hat Russland | |
erklärt, wer keinen russischen Pass habe, müsse die Territorien verlassen. | |
7 May 2025 | |
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Jens Uthoff | |
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