# taz.de -- Der Urgroßvater bei der Roten Armee: Ein Sieger, der alles verlore… | |
> Naftali ist einer von 500.000 Juden, der als Soldat in der Roten Armee | |
> dient. Er hat nie die Anerkennung bekommen, die ihm zusteht. | |
Bild: Soldaten der Roten Armee in Stalingrad im Jahr 1942 | |
Naftali ist 23 Jahre alt, als er in den Krieg zieht. Es ist das Jahr 1941, | |
und [1][das nationalsozialistische Deutschland hat gerade die | |
Sowjetunion] überfallen. Naftali sieht es als seine Pflicht an, gegen den | |
Faschismus zu kämpfen. Vielleicht bleibt ihm als junger Mann, als Soldat, | |
auch nichts anderes übrig. Vielleicht hat er keine Wahl. | |
Damals ist Naftali in Achtubinsk stationiert, einer Stadt an der Wolga nahe | |
Wolgograd, damals Stalingrad. Naftali ist einer von 500.000 Juden, die als | |
Soldaten in der Roten Armee dienen, die gegen die Deutschen kämpfen. | |
Nach dem Krieg kehrt Naftali in die Stadt zurück, in der er vor 1941 lebte, | |
in die Stadt, in der seine Familie auf ihn warten sollte, [2][nach Lwiw]. | |
Er erfährt: Sie alle wurden umgebracht, keiner von ihnen hatte überlebt. | |
Naftali, mein Urgroßvater, war ein frommer Jude. Er betete, er sprach | |
Hebräisch. Viel mehr weiß ich nicht über ihn, nur Fetzen, Fragmente, die | |
der schweigsame Teil meiner Familie über die Jahre mal hier, mal da fallen | |
ließ und die von mir behutsam aufgesammelt und verwahrt werden – die Lücken | |
fülle ich mit meiner Fantasie, mit meinem Wissen, das ich aus Büchern habe. | |
## Juden galten plötzlich als Verräter | |
1945, so viel weiß ich, gehört Naftali zu den Siegern – und doch hat er | |
alles verloren. Bis zu seinem Tod wird ihn dies verfolgen wie ein Schatten. | |
Von diesem Schatten wird er wohl etwas an seinen Sohn, meinen Großvater, | |
weitergeben und ihn zu einem ängstlichen, sorgenvollen und harten Menschen | |
machen. Ein Leiden, das nicht selbst verschuldet, sondern das Ergebnis | |
fataler historischer Ereignisse ist. | |
Ich stelle mir vor, der Krieg ist vorbei, es ist Frühling, und Deutschland | |
hat die bedingungslose Kapitulation unterschrieben. Für Naftali ist dies | |
ein guter Tag, er muss kein Soldat mehr sein, endlich kann er jemand | |
anderes werden. Vielleicht glaubt er an eine Zukunft, die besser werden | |
kann als die Vergangenheit. Vielleicht hat er Hoffnung. Schon bald aber | |
versteht er, dass eine gute Zukunft nicht für alle in der Sowjetunion | |
vorgesehen ist. Eines Tages, vielleicht, wird er begreifen, dass er nie die | |
Anerkennung bekommen wird, die ihm eigentlich zusteht. | |
Nach 1945 verloren Juden in der Roten Armee ihre Stellungen im Dienst, | |
antisemitische Kampagnen wurden inszeniert. Tausende Juden verschwanden | |
während Stalins Großem Terrors in Gulags. Juden waren nicht mehr die | |
Brüder, die Seite an Seite gegen Hitler gekämpft hatten; Juden waren | |
plötzlich Verräter. | |
## Wochen wie im Rausch | |
Es war nie einfach, mit diesen Geschichten in der eigenen Familie | |
umzugehen, mit den Brüchen und Leerstellen, über die am liebsten | |
geschwiegen wird, weil das Sprechen über sie dem Schmerz eine Form, eine | |
Gestalt geben würde. Aber in diesem Jahr ist es besonders schwer, absurd. | |
Manche Wochen im Jahr vergehen wie im Rausch. Diese, in der der Tag des | |
Sieges gegen das nationalsozialistische Deutschland begangen wurde, war wie | |
ein Horrortrip für mich. [3][In Russland instrumentalisierte Putin das | |
Andenken] erneut für seine Propagandazwecke und startete in der Nacht zum | |
8. Mai einen Großangriff auf die Ukraine. | |
[4][Student:innen in Deutschland] hielten Cosplay-Events im Geiste der | |
Proteste an der Columbia University in New York ab. Sie spielten Aufstand, | |
riefen zur Intifada oder auch zur „one solution“ auf. Dass dies nach | |
Endlösung, nach der Vernichtung von Juden klingt – bestimmt nur blöder | |
Zufall. Zu allem Übel schaute ich mir, ob aus masochistischen Beweggründen | |
oder aus Versehen, weiß ich nicht mehr, noch eine Berlindokumentation in | |
der ARD-Mediathek an, die statt „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ | |
besser „Deutschland, ein Opfermärchen“ hätte heißen sollen. | |
Dieses Jahr – es fühlt sich an wie ein langer Albtraum, denke ich. Dann | |
kommt mir Naftali wieder in den Sinn, und ich bin stolz und traurig | |
zugleich. | |
11 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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