# taz.de -- Trauma, Ukraine, Nahost: Risse wie Abgründe | |
> Aggressionen hinterlassen tiefe Spuren: sowohl der Angriffskrieg gegen | |
> die Ukraine als auch der Überfall der Hamas auf Zivilisten. Wie damit | |
> umgehen? | |
Bild: Der Knacks ist das nicht Sichtbare, das Verborgene | |
Viele Risse ziehen sich durch mein Leben, und erst vor einigen Wochen, als | |
ich auf meiner Couch sitze, spüre ich, welchen Knacks sie in meiner | |
Biografie, in meinem Alltag hinterlassen haben. | |
[1][Der Tod Alexei Nawalnys] ist da gerade bekannt geworden, Menschen | |
strömen in Russland auf die Straßen. Ich denke: Wird dieses Land jemals | |
frei von Putins Herrschaft sein, jemals kein menschenfeindlicher Ort mehr | |
sein? Und spüre: den Verlust von etwas. Schon wieder. | |
Der große [2][Roger Willemsen] schrieb über den Knacks in seinem | |
gleichnamigen Buch vor vielen Jahren. Der Riss, so schrieb er, sei spürbar, | |
teile das Leben in ein Diesseits und Jenseits. Nicht aber der Knacks. „Er | |
ist unmerklich, er teilt nicht, er prägt.“ | |
Der Knacks ist das nicht Sichtbare, das Verborgene. Er ist etwas, das | |
bleibt. Der Riss hingegen ist das Trauma selbst. Für mich: der 24. Februar | |
2022, der Beginn des russischen Angriffskriegs; [3][der 7. Oktober], der | |
Überfall der terroristischen Hamas auf Israel. | |
## Verbleib ungewiss | |
Diese beiden Risse haben viel für mich zerstört, mein Leben tief | |
erschüttert. Und dabei sei gesagt, dass es Menschen gibt, die diese Risse | |
noch viel stärker spüren als ich. Die Ukrainer selbst, die tagtäglich zum | |
Angriffsziel werden. Menschen in Israel, die Angehörige, Freunde verloren | |
haben am 7. Oktober, und diejenigen, deren Liebste noch immer in Gaza | |
gefangen gehalten werden, deren Verbleib ungewiss ist. | |
Mir haben diese Risse [4][Orte meiner Kindheit gestohlen], das unbeschwerte | |
Verhältnis zu Teilen der eigenen Familie, weil diese lieber Propaganda | |
nachhängen, als die Wahrheit anzunehmen, und [5][Freundschaften, die | |
brüchig geworden] oder ganz verschwunden sind. | |
Wenn ich versuchen müsste, meinen Knacks zu beschreiben, dann wäre es: der | |
Verlust. Nicht der menschliche, den wir alle erleben, die Endlichkeit. Ich | |
meine einen Verlust, der Tieferes berührt, das Urvertrauen selbst. | |
Dieser Knacks meint den Verlust von Vertrauen in die Welt, dass es mal | |
besser werden kann, dass es einen Platz gibt für mich und dass dieser Platz | |
sicher ist. | |
## „Eingangsbereich, der Korridor, keine Fenster“ | |
Als der Krieg am 24. Februar 2022 ausbrach, flohen manche Juden aus der | |
Ukraine nach Israel. Eine Flucht in der Hoffnung auf Sicherheit. Dann kam | |
der 7. Oktober, und diese Menschen erlebten mal wieder, dass es für sie | |
keine Sicherheit gibt. Mittlerweile fliehen manche dieser Menschen wieder | |
zurück in die Ukraine. Wie grotesk ist das? | |
Auf einer Veranstaltung, die ich vor einiger Zeit moderierte, erzählte der | |
ukrainische Dramatiker Pavlo Arie von seinem Neffen, der noch vor Beginn | |
des russischen Angriffskriegs Alija nach Israel gemacht hatte. Er entging | |
somit, ohne es zu ahnen, dem Krieg und Trauma, wurde sodann aber, am 7. | |
Oktober in Israel, davon eingeholt. [6][In seinem Tagebuch], das er mit dem | |
24. Februar begann und das er später veröffentlichte, beschreibt Pavlo, wie | |
dieser Neffe ihm Tipps gab, in welchen Räumen seiner Wohnung er am besten | |
vor russischen Raketen geschützt sein würde, also „Eingangsbereich, der | |
Korridor, kahle Wände, keine Fenster“. | |
Es liegt darin also eine Kontinuität, wo die meisten wahrscheinlich keine | |
vermuten würden. Der russische Angriffskrieg traf die jüdische Gemeinschaft | |
in Deutschland besonders schwer. [7][Knapp die Hälfte der Juden] hier haben | |
ihre Wurzeln in der Ukraine. Und mit dem 7. Oktober musste die jüdische | |
Community einen weiteren Angriff verarbeiten, einen weiteren Verlust. | |
Vielleicht ist es so: Die Wiederholung von Traumata führt langfristig zu | |
einem Knacks. Somit ist dieser, mein Knacks, nichts, was nur ich in mir | |
trage. Er muss auch kollektiv verstanden werden. Dieser Knacks ist wie ein | |
Splitter im Herzen, der dort seinen Platz gefunden hat. Und ist das Leben | |
einmal angeknackst, ändert sich alles, für immer. | |
12 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Russischer-Dissident-Alexei-Nawalny-tot/!5992745 | |
[2] /Roger-Willemsen-ueber-Guantanamo/!5169098 | |
[3] /Schuld-und-Krieg-im-Nahen-Osten/!5990145 | |
[4] /Krieg-in-der-Ukraine/!5944202 | |
[5] /Relativierung-von-Antisemitismus/!5966610 | |
[6] https://ukrdrama.ui.org.ua/files/texts/arie_diary_of_survival3_engx.pdf | |
[7] /Ukrainische-Juden-in-Deutschland/!5838641 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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