# taz.de -- Relativierung von Antisemitismus: Ein Abgrund hat sich aufgetan | |
> Seit dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober ist die Verunsicherung unter | |
> Jüdinnen*Juden noch gewachsen. Morde gelten als Widerstand, | |
> antisemitische Gewalt ist alltäglich. | |
Bild: Berlin, 13.10.2023: Mahnwache gegen den Terror der Hamas vor der Synagoge… | |
Als vergangenen Sonntag am Brandenburger Tor in Berlin Tausende an einer | |
[1][Kundgebung in Solidarität mit Israel] teilnehmen, sitze ich allein auf | |
einer Bank zwischen Kleingärten und bekomme eine Quitte geschenkt. Die | |
Frau, die sie mir in die Hand drückt, spricht kaum Deutsch, ihr fragendes | |
„Hm?“, gepaart mit einem unschuldigen Lächeln berührt mich so sehr, dass | |
mir die Tränen in die Augen schießen, ich zurücklächle und mich schüchtern | |
bedanke. | |
Seit dem 7. Oktober ist dies die erste Begegnung, die ich mit jemand | |
Fremden habe. Ich gehe nur noch selten raus, bin mit meinem Schreibtisch | |
verwachsen. Manchmal vergehen zwei Tage, ohne dass ich es merke. | |
Alltägliche Dinge wie einkaufen gehen habe ich seit einer gefühlten | |
Ewigkeit nicht mehr getan. Es ist ein Leben im Ausnahmezustand zwischen | |
Telefonaten mit Angehörigen, die verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, | |
weiterhin Aufmerksamkeit für ihre Mütter, Väter, Kinder oder Großeltern zu | |
schaffen, die von Terroristen der Hamas nach Gaza verschleppt wurden – und | |
der Auseinandersetzung mit der antisemitischen Gewalt hier vor meiner | |
Haustür in Berlin und auf der ganzen Welt. | |
Es fällt mir schwer, gegen das Gefühl absoluter Verunsicherung anzukämpfen. | |
Wie auch? [2][Linke agieren im Schulterschluss mit Islamisten.] Im Kunst- | |
und Kulturbereich werden die Morde und Vergewaltigungen, die enthaupteten | |
Babys relativiert und teilweise als legitimer Widerstand gefeiert. | |
Vereinzelt finden sich Solidarisierungen mit Israel und den Ermordeten, die | |
jedoch sogleich von den selbsternannten Widerstandsanhängern attackiert | |
werden. | |
[3][Ein offener Brief folgt dem nächsten], in denen der 7. Oktober nur noch | |
eine Randnotiz ist und Berlin-Neukölln zum besetzten Open-Air-Gefängnis | |
wird, wie für die Unterzeichner ja auch Gaza. Wäre all das nicht genug | |
auszuhalten, [4][feiern am Alexanderplatz in Berlin Islamistenbrüder] | |
(-schwestern sieht man da kaum) Forderungen nach einem Kalifat und der | |
islamischen Herrschaft, unter der Israel vernichtet werden muss. | |
## Der 7. Oktober ist eine Zäsur | |
Antisemiten sind schamlos, angstfrei. [5][Sie greifen Synagogen an] und | |
[6][Juden in ihrem Zuhause]. Sie schauen sich auf ihren Handys in der | |
U-Bahn Propagandavideos der Hamas oder Salafisteninfluencer an. Juden | |
hingegen isolieren sich. Vor jüdischen Gemeinden oder Synagogen sollen sie | |
nicht lange stehen bleiben. Ich bin in der Bahn nach einem Termin in der | |
Gemeinde nervös, weil ich Sorge habe, jemand könnte sich provoziert fühlen | |
von dem Gespräch, das ich mit meiner Begleitung führe. Das ist das Perfide | |
an Terror. Er wirkt nicht nur unmittelbar dort, wo er begangen wurde; er | |
trägt sich weiter und greift damit das Vertrauen in eine sichere Welt an. | |
Dass der 7. Oktober eine Zäsur ist, zeigt sich nicht allein an der Zahl | |
getöteter Juden. [7][Wenn Journalisten um Worte ringen,] wenn mit Sprache | |
kaum vermittelbar ist, welcher Horror sich in den Kibbuzim ereignet hat, | |
dann hat sich ein Abgrund aufgetan, den ich nicht mehr für möglich gehalten | |
habe. Ich habe nicht für möglich gehalten, dass Juden einmal mehr vor den | |
Augen ihrer Kinder abgeschlachtet, in ihren Häusern verbrannt, in die Luft | |
gesprengt werden könnten. Ich dachte, das Wort Pogrom im selben Atemzug wie | |
Juden zu nennen, werde sich immer auf Vergangenes beziehen. | |
Ich habe mit mehr Empathie, mit einem längeren Entsetzen angesichts des | |
Massakers gerechnet. Der Terror ist schließlich nicht vorbei: Israel wird | |
immerfort mit Raketen aus Gaza angegriffen, über 200 Geiseln befinden sich | |
noch immer in der Gewalt von Hamas-Terroristen. | |
Die vergangenen drei Wochen waren wie ein Sprint. Und ich weiß, dass uns | |
noch ein Marathon bevorsteht. In manchen Momenten bin ich zuversichtlich | |
und weiß dann doch wieder nicht, wie der Vertrauensverlust je zu bewältigen | |
sein wird. | |
27 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Solidaritaet-mit-Israel/!5965103 | |
[2] /Nach-dem-Massaker-in-Israel/!5963661 | |
[3] /Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5964504 | |
[4] https://www.bz-berlin.de/polizei/islamist-und-israel-hasser-hetzt-auf-dem-a… | |
[5] /Versuchter-Anschlag-auf-Synagoge/!5963814 | |
[6] https://www.leparisien.fr/paris-75/paris-la-porte-dentree-dun-couple-juif-i… | |
[7] https://www.youtube.com/watch?v=EW0Atcdy38g | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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