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# taz.de -- Linke im Nahost-Konflikt: Was den „Genossen“ schwerfällt
> Kritische Solidarität mit Israel ist keine Neurose. Sie ist eine
> Errungenschaft der Linken und fußt auf spezifischen historischen
> Erfahrungen der BRD.
Bild: Der Kibbuz Kfar Aza am 7. April 2024, ein halbes Jahr nach dem Überfal…
In einem Interview über Größe und Grenzen der 68er Bewegung setzt Hans
Magnus Enzensberger 1978 im Gespräch mit dem italienischen Journalisten
Marco d’Eramo einen bis in unsere Gegenwart nachklingenden
Schlussakzent.
Die pure Existenz des realen Sozialismus in der DDR, sagt Enzensberger,
habe dazu geführt, dass linksradikale Positionen in der BRD längst nicht so
weit in die gesellschaftliche Mitte ausstrahlen konnten wie etwa in
Frankreich oder Italien: „Man darf diese Tatsache nie vergessen, denn sie
bestimmt alles, sie begrenzt jede politisch linke Position. Wer das nicht
zur Kenntnis nimmt, isoliert sich. Den Genossen aus dem Ausland fällt es
schwer, das zu verstehen.“
Nun, auch heute fällt es vielen ausländischen „Genossen“ schwer, nicht nur
die offizielle deutsche Position zum durch das Massaker der Hamas am 7.
Oktober 23 ausgelösten Gaza-Krieg zu verstehen. Es ist gerade die – von der
gesellschaftlichen Linken überhaupt erst im Nationalbewussten verankerte –
„German guilt“ und das daraus abgeleitete Handeln, welches als Macke,
Trauma oder Neurose, wenn nicht gleich [1][als bloße Ausrede für eine
bedingungslose Unterstützung der Kriegsführung der amtierenden israelischen
Regierung] gewertet wird.
Mit Enzensberger können wir daran erinnern, dass es neben dem von den
Deutschen zu verantwortenden Holocaust noch [2][mindestens] eine andere
bedeutende historische Erfahrung der Zeitgeschichte gibt, die kein anderes
westliches Land gemacht hat: dass ein Teil der Nation einer
realsozialistischen Diktatur unterworfen war, die für sich in Anspruch
nahm, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, obwohl Mauerregime
und Mangelwirtschaft das Tag für Tag als offensichtliche Lüge entlarvten.
Aus dieser Tatsache leitet Enzensberger die Beschränkungen jeder radikalen
Linken in der BRD ab. Er sagt:
„Einer unserer Fehler im Jahr 1968 war es, Antikommunismus nur als
Manipulation durch die großen Meinungsmonopole zu interpretieren. Und das
stimmte nicht. Die Menschen waren nicht schlecht informiert. Als die
Arbeiter in der BRD uns zugerufen haben: ‚Geht doch rüber, zu euren
kommunistischen Freunden!‘, reagierten wir auf diese Rufer hysterisch, wir
sagten zu uns: ‚Das sind Faschisten. Wie ist das möglich?‘.
Stattdessen wollten sie wirklich, dass wir ihnen erklären, was im Osten
passiert. Und wir waren dazu nicht in der Lage. Vage führten wir aus, dass
wir einen anderen Sozialismus wollen, konnten aber nicht konkret und
kohärent sagen, welchen denn nun. Und wenn eine Idee mit einem Interesse
kollidiert, ist es immer die Idee, die besiegt wird. Das war 68 der Fall.“
## Zurück zum Nahost-Konflikt
Hier bietet sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten zur heutigen Debatte.
Wäre es nicht angebracht, mehr als „vage“ – siehe oben – öffentlich zu
erklären, wie man sich eine Zukunft in Gaza unter dem Regime der Hamas
vorstellt? Oder eben gar, wie die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen
werden sollen?
Grundsätzlicher gesagt heiligt auch bei Befreiungsbewegungen – und das ist
die Hamas ja in der eigenen Definition [3][und der ihrer internationalen
Anhänger:innen] – der Zweck nicht die Mittel. Sie können nicht für sich
in Anspruch nehmen, dass ihr mörderisches Potenzial einfach unterschlagen
wird: Eben diesen Fehler haben Intellektuelle schon einmal [4][in der
Beurteilung des realen Sozialismus] gemacht – und machen ihn in Teilen noch
heute bei der Beurteilung des Putin-Regimes.
Wäre es, um Enzensberger weiter zu paraphrasieren, nicht an der Zeit, die
Internationale der Hamas-Nichterwähner:innen erklärte uns „konkret
und kohärent“, wie sie sich eine Zukunft in der Region mit diesen Leuten in
verantwortlicher Position denken?
Soll der 7. Oktober der Nationalfeiertag eines Staats „from the river to
the sea“ werden? Was wird man den Kindern zum Anlass der Party sagen? Heute
feiern wir, dass Zivilisten abgeschlachtet, gedemütigt, missbraucht und
entführt wurden?
## Ideen und Interessen
Nein, wir sind so wenig „schlecht informiert“, wie es die westdeutschen
Arbeiter:innen 1968 ff. waren. Und unsere Informationen fließen in
einen historischen Resonanzraum, aus dem heraus es schlicht ignorant wäre,
das menschenfeindliche Potenzial bei denen zu übersehen, die sich moralisch
auf der überlegenen Seite verorten.
Die Unterstützung, die Israel beim iranischen Angriff von den arabischen
Nachbarstaaten erfahren hat, lässt darüber hinaus – noch mal mit
Enzensberger gesprochen – die Frage aufkommen, wo denn in diesem Konflikt
die „Idee“ und wo das „Interesse“ verortet ist: Wer also am Ende siegen
wird.
Offensichtlich ist das Interesse der Regierungen der Anrainerstaaten – was
relevante Teile der Bevölkerung denken, weicht davon gewiss ab – [5][an
Stabilität und an einer Einhegung des iranischen Mullahregimes] und seiner
Partner in der Region sehr viel größer, als es der Endkampf gegen Israel
oder die Befreiung der Palästinenser:innen vom Besatzungsregime ist.
Die Palästinenser: innen sind allein. Das ist die Tragik der Geschichte.
Aber die Aufgabe von Aktivist:innen und Intellektuellen erschöpft sich
nicht darin, das zu beklagen. Sie müssen vielmehr ihren Anteil an dieser
Tragik anerkennen und den eigenen Leuten vermitteln. Nur dieser Weg kann in
eine bessere Zukunft führen.
## Es braucht einen neuen Enzensberger
Dass Israel den Krieg gegen die Hamas nicht als einen gegen die
Zivilbevölkerung in Gaza weiterführen darf, ist inzwischen Konsens des
Establishments von Washington über den Vatikan nach Berlin bis Moskau
(wobei die dortige Führung das größte Interesse an einer Fortsetzung des
Konflikts hat). Wenn die internationale, postkoloniale Linke in dieses
offizielle „die Waffen nieder“ einstimmt, ist das zu begrüßen, originell
oder wirkmächtig ist es nicht.
Die Linke sollte das tun, wozu sie erfunden wurde: Herrschaft kritisieren
und mutig und radikal auf der Seite aller Opfer stehen. Dazu freilich
müsste sie die israelischen Geiseln überhaupt erst mal zur Kenntnis nehmen
und die Taktik der Hamas, sich hinter der Zivilbevölkerung in Gaza zu
verstecken, anprangern. Und ihre Intellektuellen müssten das tun, was im
deutschen Diskurs unter ungleich friedlicheren Umständen, aber auch unter
der Herausforderung der konkreten geschichtlichen Erfahrung geleistet
wurde: die eigenen Leute kritisieren, die im Namen des Antiimperialismus
[6][jedes abscheuliche Verbrechen zu rechtfertigen bereit sind.]
Man kann nur hoffen, dass auch diese heutige Linke einst ihren Enzensberger
findet, der ihre Irrtümer analysiert – wenigstens das. Für die Lösung der
aktuellen Probleme macht diese Hoffnung sie aber nicht weniger irrelevant.
Das Interview mit Hans Magnus Enzensberger ist 1978 im Band
„L’immaginazione senza potere. Miti e realtà del ’68“ erschienen und
[7][auf der Website der linken italienischen Zeitschrift MicroMega
abrufbar] unter dem Titel: „Il Sessantotto tedesco. Intervista a Hans
Magnus Enzensberger“ (Übersetzungen in diesem Text vom Autor).
19 Apr 2024
## LINKS
[1] /Nancy-Fraser-ueber-Cancel-Culture/!6002965
[2] /NS-Geschichte-und-Gaza/!5970262
[3] /Judith-Butler-und-ihr-Werk/!5994977
[4] /Holodomor-in-der-Sowjetunion/!5895422
[5] /Experte-zu-Eskalation-in-Nahost/!6004250
[6] /Mustafa-Barghouti-ueber-den-Gazakrieg/!5986884
[7] https://micromegaedizioni.net/2023/11/17/hans-magnus-enzensberger-intervist…
## AUTOREN
Ambros Waibel
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