Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Jahr Haft von Evan Gershkovich: Im Wartezimmer der Ungewissheit
> Seit März 2023 sitzt der US-Journalist im berüchtigten Moskauer
> Lefortowo-Gefängnis. Und das nur, weil der wahre Verbrecher Russland
> regiert.
Bild: Wall Street Journal Reporter Evan Gershkovich vor Gericht in Moskau im Ok…
„Über Russland zu berichten, heißt, jetzt auch regelmäßig zu beobachten,
wie Leute, die man kennt, jahrelang weggesperrt werden.“ Diesen Satz
schrieb [1][Evan Gershkovich] im Juli 2022 auf Twitter, jetzt X. Ein Satz,
der angesichts dessen, was Gershkovich selbst nicht mal ein Jahr später
widerfahren sollte, prophetisch und absurd wirkt.
Am 29. März 2023 wurde Evan Gershkovich, US-amerikanischer Journalist für
das Wall Street Journal, von russischen Sicherheitskräften vor einem
Steakhouse in Jekaterinburg festgenommen. Der russische Inlandsgeheimdienst
FSB wirft ihm Spionage vor. Er soll Staatsgeheimnisse gesammelt haben.
Damit ist Gershkovich der erste amerikanische Journalist, der seit dem
Kalten Krieg in Russland der Spionage beschuldigt wird.
Seit diesem Tag, also seit bald einem Jahr, sitzt der 32-Jährige in
Untersuchungshaft im berüchtigten Moskauer Lefortowo-Gefängnis; ein
Schreckensort in der russischen Geschichte, der traditionell darauf
abzielt, seine Gefangenen psychisch mürbe zu machen, in dem sie voneinander
isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten werden.
## Sein Schicksal geht mir nah
Ich kenne Gershkovich nicht persönlich, wir teilen wenige Bekannte, aber
sein Schicksal geht mir nah. Wie auch meine Familie [2][verließen seine
Eltern die Sowjetunion] – aus Sorge vor steigendem Antisemitismus und weil
sie sich ein besseres, freieres Leben erhofften. Meine Familie emigrierte
in den 1990er Jahren nach Deutschland. Ella Milman und Mikhail Gershkovich
bereits 1979, in die USA. Sie aus St. Petersburg, er aus Odessa. Ella und
Mikhail gründeten eine Familie, bekamen Danielle, Evans Schwester, und dann
ihn. Die beiden Kinder wuchsen als Amerikaner auf, sprachen Russisch zu
Hause. Sie lebten in Sicherheit. So, wie es sich die Eltern immer gewünscht
hatten.
Gershkovich sah es als seine Aufgabe an, auch dann noch aus Russland zu
berichten, als viele andere Kollegen das Land längst verlassen mussten.
Nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine zog er zwar nach
London, kehrte kurz darauf aber immer wieder zurück, um zu berichten.
Freunden erzählte er später, er sei gelegentlich verfolgt worden. Aber
einschüchtern lassen wollte er sich davon nicht.
Fast ein Jahr ist Evan Gershkovich schon ein [3][politischer Gefangener des
russischen Regimes], angeführt von Wladimir Putin. Für ihn ist der
Journalist nur menschliche Verhandlungsmasse, ein Druckmittel, die er
missbraucht gegen die USA. Und Putin führt sein widerwärtiges,
menschenverachtendes Unterdrückungssystem weiter, [4][lässt Menschen
einsperren], die wie Gershkovich nichts anderes taten, als die Wahrheit in
die Welt zu tragen.
## Kurze Hoffnung
Im vergangenen Jahr kam Bewegung in den Fall. Ein möglicher Austausch:
Gershkovich gegen den sogenannten Tiergartenmörder Wadim Krassikov, der
seine lebenslange Haftstrafe in Deutschland vebüßt. Und Alexei Nawalny soll
eine Rolle gespielt haben, [5][heißt es mittlerweile von Nawalnys Team],
nachdem er in Gefangenschaft zu Tode gekommen ist. Putin soll zuvor einem
Tausch zugestimmt haben: Krassikow gegen Nawalny und zwei US-Amerikaner,
Gershkovich und Paul Whelan (seit 2018 in russischer Haft). Die deutschen
Behörden haben sich dazu bislang nicht geäußert.
Spätestens seit diese mutmaßliche Möglichkeit in der Welt ist, eine,
[6][die mit Nawalnys Tod sogleich wieder erloschen ist], ist in mir das
Gefühl absoluter Hoffnungslosigkeit größer als je zuvor. Evan Gershkovich
ist kein Verbrecher, sondern Journalist, und sitzt vor Gericht dennoch
jedes Mal in einem Metallkäfig oder hinter Glas, während der wahre
Verbrecher in seinen prunkvollen Residenzen sitzt.
„Evan, bleib stark!“, rief ihm ein Kollege im Gerichtssaal im vergangenen
Jahr zu. Evan lächelte. Evan muss stark bleiben, ja. Und er muss endlich
aus dem Wartezimmer der Ungewissheit, seiner Zelle, in die Freiheit
entlassen werden.
16 Mar 2024
## LINKS
[1] /Repression-in-Russland/!5922208
[2] /In-russischer-Geiselhaft/!5925370
[3] /US-Reporter-Evan-Gershkovich-in-U-Haft/!5934370
[4] /Oppositionelle-in-Russland/!5962034
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nawalny-austausch-100.html
[6] /Russischer-Dissident-Alexei-Nawalny-tot/!5992745
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Kolumne Grauzone
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Schwerpunkt Pressefreiheit
Kolumne Grauzone
Wladimir Putin
Russland
Schwerpunkt Pressefreiheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Trauma, Ukraine, Nahost: Risse wie Abgründe
Aggressionen hinterlassen tiefe Spuren: sowohl der Angriffskrieg gegen die
Ukraine als auch der Überfall der Hamas auf Zivilisten. Wie damit umgehen?
Propaganda-Show in Russland: Putin wird an den Eiern gepackt
Russlands Präsident hält Hof – Jahrespressekonferenz und Bürgerfragestunde
in einem. Zu wenige und teure Eier sind ein Thema, das die Menschen bewegt.
Pressefreiheit in Russland: US-Journalistin in U-Haft
Einer amerikanisch-russischen Mitarbeiterin von Radio Liberty droht
jahrelange Haft. Sie habe sich nicht als „ausländische Agentin“
registriert.
US-Reporter Evan Gershkovich in U-Haft: Politischer Spielball
Evan Gershkovich drohen bis zu 20 Jahre Haft. Ob die Vorwürfe konstruiert
sind, spielt in einem autoritären Staat wie Russland keine Rolle.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.