# taz.de -- Oppositionelle in Russland: „Er lässt sich nicht brechen“ | |
> Boris Kagarlizki ist der bekannteste linke Dissident Russlands und sitzt | |
> in U-Haft. Seine Tochter spricht im Interview über Protest und | |
> Repression. | |
Bild: Eine internationale Kampagne fordert die Freilassung von Kagarlizki, hier… | |
wochentaz: Frau Kagarlizki, wann haben Sie mit Ihrem Vater das letzte Mal | |
gesprochen? | |
Xenia Kagarlizki: Zwei Tage bevor er festgenommen wurde, haben wir | |
telefoniert. Seitdem können wir nur noch per Brief miteinander | |
kommunizieren. Ich schreibe ihm täglich, und er antwortet mir eigentlich | |
genauso oft. Da ich inzwischen in Montenegro lebe, habe ich ihn das letzte | |
Mal vor einem Jahr getroffen. | |
Wie geht es ihm? | |
[1][Boris] sagt immer, dass es ihm gut geht. Er will nicht, dass wir uns | |
Sorgen machen. Aber natürlich ist es schwer für ihn. Er hat Probleme mit | |
dem Herzen und einen hohen Blutdruck. Im Gefängnis bekommt er zwar | |
Medikamente, aber nicht die richtigen. Trotzdem beschwert er sich in den | |
Briefen eher über die Langeweile und das schlechte Fernsehprogramm. Er | |
laufen fast nur russische Propagandasendungen. Das ist wie Folter für ihn. | |
Ihrem Vater wird Rechtfertigung von Terrorismus vorgeworfen, ihm drohen bis | |
zu sieben Jahre Haft. Wie schätzen Sie das Verfahren gegen ihn ein? | |
Wir hoffen, dass er doch noch freigelassen wird. Unser Anwalt ist | |
optimistisch. Aus seiner Sicht gibt es keine Beweise für eine Straftat. | |
Boris war immer sehr vorsichtig, wie er seine Kritik verpackt. In der | |
Anklage geht es nur um eine Aussage, und die ist schon ein Jahr alt. | |
Um was geht es genau? | |
Im Oktober 2022 hat er in einem Stream gesagt, dass er „versteht“, warum | |
die ukrainischen Streitkräfte die [2][Brücke zur Krim] angreifen. Das ist | |
alles. Mehr hat die Staatsanwaltschaft anscheinend nicht. Allerdings | |
verschieben sie den Prozess jetzt einfach immer weiter, sodass Boris | |
womöglich noch Jahre in Untersuchungshaft bleiben muss. Eigentlich sollte | |
die Verhandlung im September beginnen. Nun ist sie für den 24. November | |
angesetzt. | |
Warum wurde Ihr Vater gerade jetzt festgenommen, kurz nach dem | |
Wagner-Aufstand? | |
Mein Vater ist keine superwichtige Figur für Putin, aber der | |
Wagner-Aufstand war sehr peinlich für diesen, er hat Schwäche gezeigt. Um | |
zu zeigen, dass er noch mächtig ist, hat Putin erst den rechten russischen | |
Nationalisten Igor Girkin festgenommen und dann meinen Vater. Mit den | |
Verhaftungen will er zeigen, dass keine Abweichung, egal aus welcher | |
politischen Richtung, geduldet wird. | |
Ihr Vater war schon in der Sowjetunion im Gefängnis, weil er für einen | |
demokratischen Sozialismus kämpfte, in den 1990er Jahren hat Jelzin ihn | |
eingesperrt, weil er den Autoritarismus im neuen Russland kritisierte. Gab | |
es jemals Freiheit in Russland? | |
Nein, in der ganzen russischen Geschichte nicht. Vielleicht waren die | |
Spielräume in den frühen 2000ern etwas größer. Lesben und Schwule hatten | |
sicher mehr Freiheit damals. Das bekannte lesbische Popduo t.A.T.u. hat | |
sogar im Kreml gespielt. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. | |
Aber damals gab es sogar unter Putin Gay-Pride-Paraden, und Proteste waren | |
erlaubt, mehr als danach jedenfalls. Seit der Annexion der Krim sind die | |
Verhältnisse in Russland immer autoritärer geworden. | |
Bedient sich Putin jener Methoden, die er beim KGB in der Sowjetunion | |
gelernt hat? | |
Seine Methoden sind anders. Es ist nicht mehr so schlimm wie unter Stalin, | |
andererseits hatte Stalin nicht die modernen Technologien, die Putin zur | |
Verfügung stehen. Heute sind in Russland alle Großstädte videoüberwacht. | |
Wenn man an einem Protest teilnimmt, wird man mit Glück vielleicht nicht | |
direkt festgenommen, aber dann holen sie einen anschließend von zu Hause | |
ab. Die Angst wächst. Darum geht es in Putins Diktatur. | |
Sie haben gemeinsam mit Ihrem Vater das linke russische Onlinemagazin | |
Rabkor („Arbeiterkommunikation“) aufgebaut. Inzwischen koordinieren Sie die | |
Arbeit aus Montenegro. Was ist das Ziel von Rabkor? | |
Unser Ziel ist es, linke Ideen in Russland zu popularisieren und zugänglich | |
zu machen. Ich bin Produzentin, mein Vater und ein größeres Team liefern | |
den Content. Wir streamen aus Montenegro, was damit zu tun hat, dass ich | |
nach Kriegsbeginn hierher geflüchtet bin. Ansonsten wäre mein Ehemann in | |
die Armee eingezogen worden. | |
Wie ist die Situation der Linken und der Antikriegsbewegung in Russland? | |
Weder in Russland noch international gibt es viele Linke im Sinne von | |
Sozialisten. Es gibt zwar eine Antikriegsbewegung, aber die ist | |
zerstritten. Ein Teil will alle politischen Unterschiede bis zum Sturz von | |
Putin beilegen. Das finde ich richtig. Allerdings will die Szene um Alexei | |
[3][Nawalny] da nicht mitmachen und tritt mit einer Art Führungsanspruch | |
auf. Das ist ein großes Problem. | |
Hier in Deutschland gehen viele davon aus, dass alle Russen den Krieg | |
unterstützen. Wie sehen Sie das? | |
Putins Propaganda schlachtet das natürlich aus. Er sagt: Der Westen hasst | |
euch, weil ihr Russen seid, deshalb müssen wir uns verteidigen. Wenn im | |
Westen pauschalisierend über Russen gesprochen wird, ohne die Opposition zu | |
berücksichtigen, hilft das Putin. Die normalen Menschen in Europa verstehen | |
das und differenzieren zwischen Putin und den Russen, die den Krieg nicht | |
wollen. Manche Politiker sehen den Unterschied allerdings nicht. | |
Wie meinen Sie das? | |
Die Europäische Kommission hilft der russischen Opposition nicht wirklich. | |
Noch bis 2022 hat sie erlaubt, dass Waffen, die von der russischen Polizei | |
gegen Demonstranten eingesetzt werden, nach Russland geliefert wurden. Und | |
dann fragen sich dieselben Politiker, warum nur so wenig protestiert wird | |
in Russland. | |
Wie geht es weiter für die Opposition? | |
Ich glaube, es gibt viele Menschen, die Aktionen von der Opposition | |
erwarten und sich daran beteiligen würden. Aber viele, die so etwas | |
initiieren könnten, sind im Gefängnis oder ins Ausland geflüchtet. Es gibt | |
im Moment niemanden, der vorangehen könnte. | |
In einem Interview vor seiner Festnahme mit dem amerikanischen Sender | |
Democracy Now war Ihr Vater hoffnungsvoll, dass Putin gestürzt werden wird. | |
Ist er es immer noch? | |
Er ist die optimistischste Person, die ich kenne. Während alle in Panik | |
geraten, bleibt er ruhig und macht einen Witz. Das hat sich nicht geändert. | |
Putin wird verschwinden, da ist er sich sicher. Nur wann, das ist die | |
Frage. | |
Woher nimmt er diesen Optimismus? | |
Er liegt einfach in seiner Persönlichkeit. Er ist nie bedrückt und lächelt | |
immer. Immerhin war er schon ein paarmal in seinem Leben eingesperrt und | |
kam immer wieder raus. Und ich glaube, das ist vielleicht auch die einzige | |
Art, wie man dieser Situation gut begegnen kann. Er lässt sich vom | |
Gefängnis seinen Willen nicht brechen. | |
Haben Sie manchmal Heimweh? | |
Ja, oft. Aber wenn ich daran denke, dass sie mich am Flughafen sofort | |
verhaften würden, verschwindet das Gefühl. Montenegro ist wirklich ein | |
wunderbares Land, und ich bin dankbar, dass sie mir ein Arbeitsvisum | |
gegeben haben. | |
Was hoffen Sie für die Zukunft? | |
Ich hoffe, dass es einen demokratischen Weg geben wird. Vielleicht eine | |
Öffnung, wie zum Ende der Sowjetunion. Wenn Putin gestürzt wird, muss es | |
erst eine provisorische Regierung geben und dann hoffentlich wirklich | |
demokratische Wahlen. Das kann allerdings nur passieren, wenn die Ukraine | |
den Krieg gewinnt. Und auch dann besteht die Gefahr, dass Russland im Chaos | |
untergeht. Angesichts der Atomwaffen wäre das ein großes Problem. | |
Würden Sie in ein Russland ohne Putin zurückkehren? | |
Ja, ich hoffe darauf. Sehr viele Menschen würden zurückkehren. | |
7 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jan Schroeder | |
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