# taz.de -- Strafkolonie „besonderen Regimes“: „Väterchen Frost“ läch… | |
> Russland politischer Gefangene Alexei Nawalny wirkt abgemagert, aber | |
> nicht niedergeschlagen. Er ist nun in einer Strafkolonie hinter dem | |
> Polarkreis. | |
Bild: Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny meldet sich bei einer Anhöru… | |
Moskau taz | Nein, Briefe hätten es noch nicht zu ihm geschafft. Telegramme | |
auch nicht. Alexei Nawalny, Russlands Polithäftling Nummer eins, steht | |
hinter einem Gitter, im Hintergrund ist eine weiße, geöffnete Tür zu sehen. | |
Eine Kamera filmt ihn und schickt die Bilder in eine Strafkolonie, die er | |
längst verlassen hatte. Ein paar Journalist*innen stellen ihm dort | |
Fragen. Nawalny lächelt, wie er immer lächelt. | |
Der politische Gegner von Präsident Wladimir Putin war vor gut drei Jahren, | |
[1][am 17. Januar 2021, verhaftet worden]. Nach seiner Vergiftung mit dem | |
Nervenkampfstoff Nowitschok und seiner Behandlung in Deutschland nahmen ihn | |
die russischen Behörden bei seiner Rückkehr gleich an der Grenze fest. Im | |
Video sieht er mittlerweile abgemagert aus, die Haare kahl geschoren. „Auch | |
mein Väterchen-Frost-Bart ist ab, Bärte sind nicht erlaubt hier“, sagt er. | |
Seinen Galgenhumor hat Nawalny noch. | |
Kurz vor Neujahr war er von einer Strafkolonie unweit von Moskau auf | |
abenteuerlichen Wegen hinter den Polarkreis gebracht worden. Als „neues | |
Väterchen Frost“, Russlands Mythenfigur und Ersatzweihnachtsmann in einem, | |
hatte er sich über X, ehemals Twitter, wieder gemeldet. | |
[2][Wochen des Bangens waren da vergangen.] Weder seine Familie noch seine | |
Mitstreiter*innen und nicht einmal sein Anwalt hatten gewusst, was mit | |
dem 47-Jährigen passiert war. | |
## Nawalny „auf Etappe“ geschickt | |
Nawalny, der im August vergangenen Jahres unter anderem wegen [3][„Bildung | |
einer extremistischen Gemeinschaft“] zu insgesamt 19 Jahren Haft verurteilt | |
worden war, [4][war „auf Etappe“ geschickt worden]. So nennt sich in | |
Russland die Verlegung von einer Strafanstalt in eine andere. Eine Praxis | |
der Erniedrigung von Gefangenen, die noch auf Zarenzeiten zurückgeht. | |
Bei der Prozedur bleiben Verurteilte bis zu ihrer Ankunft am neuen Ort über | |
Wochen hinweg im Unwissen. Der Strafvollzugsbehörde geht es dabei vor allem | |
darum, den Gefangenen ihre Ohnmacht zu demonstrieren. | |
Die neue Strafkolonie IK-3, aus der sich Nawalny Ende des Jahres per Video | |
meldete, trägt den Spitznamen „Polarwolf“. Es ist fast schon eine | |
Klischee-Strafanstalt sowjetischer Bauart im unwirtlichen russischen | |
Norden. Es war sein erster Auftritt nach seiner Verlegung in diese Kolonie | |
„besonderen Regimes“ des Gebiets der Jamal-Nenzen im Dorf Charp, knapp | |
3.500 Kilometer nordöstlich von Moskau. | |
Charp, was in der Sprache der nomadischen Nenzen „Nordlicht“ heißt, ist ein | |
Dorf, das wegen der Gefängnisse entstanden ist. Ende der 1940er Jahre | |
sollte dort die Transpolare Magistrale durchführen, ein stalinistisches | |
Großprojekt, das von Workuta dem Eismeer entlang bis nach Igarka in | |
Ostsibirien führen sollte. | |
Gulag-Gefangene sollten die Eisenbahnlinie bauen – wie auch die | |
Gefängnisbaracken für sich und die Häuser für ihre Aufseher. Nach dem Tod | |
des Diktators Stalin 1953 wurde die „Tote Trasse“ aufgegeben. Die Dörfer | |
blieben – und mit ihnen die Strafkolonien. | |
## Lager mit Spitznamen „Polarwolf“, „Polareule“ und „Eisbär“ | |
In Charp gibt es neben „Polarwolf“ noch die „Polareule“ für knapp 400 | |
lebenslänglich Verurteilte, im nur 30 Kilometer entfernten Labytnangi die | |
Strafkolonie „Eisbär“. Hier war 2018 der [5][ukrainische Filmregisseur und | |
Sacharow-Preisträger Oleh Senzow] in einen monatelangen Hungerstreik | |
getreten. | |
Es gehe ihm gut, sagte Nawalny. Die Kälte setze ihm zwar zu – in Charp | |
herrschen derzeit Temperaturen von mehr als minus 30 Grad Celsius. Tagsüber | |
gibt es in diesen Breitengraden lediglich drei Stunden Licht, sonst | |
herrscht draußen finstere Nacht. Im Sommer geht die Sonne dagegen | |
wochenlang nicht unter, Mückenschwärme werden zur Plage. | |
In Charp leben knapp 5.000 Menschen, die meisten in den Strafkolonien. | |
Täglich halten hier zwei Züge, einer geht nach Moskau, der andere nach | |
Workuta, noch weiter hinter den Polarkreis, in die Froststadt der einstigen | |
Arbeitslager. | |
## Anwälte fahren jetzt zwei Tage, um Nawalny zu sehen | |
Alexei Nawalny ist wieder einmal in Isolationshaft, was bedeutet, dass er | |
bereits um 6.30 Uhr morgens Ausgang in einen „Hof“ habe – „elf Schritte | |
lang, drei Schritte breit, über dem Kopf ein Gitter“, wie er mitteilt. Dem | |
Regime geht es mit der Verlegung vor allem darum, den Politiker zu | |
isolieren. | |
Im März will Wladimir Putin als Präsident bestätigt werden. Fast täglich | |
werden Oppositionelle festgesetzt, die Nawalny unterstützen oder Putins | |
Regierung kritisieren. Vergangenen Donnerstag etwa der 54-jährige | |
Menschenrechtsaktivist Gregori Winter. Er habe die russische Armee | |
diskreditiert und wurde zu drei Jahren Haft in einer Strafkolonie | |
verurteilt. | |
Der Zugang zu Nawalny ist ebenfalls erschwert, auch für seine Anwälte. | |
Charp liegt in einer Grenzzone, selbst russische Staatsbürger*innen | |
brauchen dafür eine spezielle Genehmigung des Inlandsgeheimdienstes FSB. | |
Der Weg dorthin dauert – sowohl mit dem Auto als auch mit dem Zug – mehr | |
als zwei Tage. Das „neue Väterchen Frost“ soll verstummen. So will es das | |
Regime. Nawalny aber lächelt in die Kamera und hat genau das nicht vor. | |
21 Jan 2024 | |
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[5] /Kommentar-Ende-des-Hungerstreiks/!5541849 | |
## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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