| # taz.de -- Machtwechsel in der Ukraine 1944: Wo Geschichte zur Waffe wird | |
| > Vor 80 Jahren eroberte die Rote Armee Lwiw von der Wehrmacht. Nicht alle | |
| > empfanden das als Befreiung. Ein Diskussionsabend in Berlin. | |
| Bild: Gefallen im aktuellen Krieg: Zwei Unteroffizieren der ukrainischen Armee … | |
| Im ukrainischen Lwiw gibt es in diesem Jahr trotz eines runden Jahrestags | |
| wenig zu feiern. Vor 80 Jahren eroberte die Rote Armee das frühere Lemberg | |
| von der Wehrmacht zurück. Doch als Befreiung empfanden viele Menschen | |
| diesen Machtwechsel nicht, der mit neuen Kämpfen und neuem Terror daherkam. | |
| Eben jener Herrschaftswechsel stand am Dienstagabend im Berliner Museum | |
| Karlshorst [1][(ehemals Deutsch-Russisches Museum)] im Mittelpunkt einer | |
| Veranstaltung, die einigen Widerspruch im Publikum auslöste. Es ging um | |
| ukrainische Nationalisten, sowjetische Machtpolitik, zerstörte polnische | |
| Hoffnungen – und um den Krieg Putins gegen die Ukraine. Aber wurde dabei | |
| der „Faschismus wieder salonfähig gemacht“, wie ein Besucher mit bebender | |
| Stimme anmerkte? | |
| Dabei hatten sich die Vortragenden um einen betont sachlichen Vortrag | |
| bemüht. Der Historiker Kai Struve benannte die Eckpunkte der Entwicklung | |
| vor 80 Jahren, Liana Blikharska vom Museum „Territorium des Terrors“ in | |
| Lwiw steuerte die aktuelle ukrainische Debatte bei. | |
| Die Nazis hatten bis 1943 fast alle Juden im multikulturellen Lemberg | |
| ermordet. Das Ende ihres Terrorregimes 1944 weckte Hoffnungen: Die | |
| polnischen Bewohner setzten auf eine Wiederangliederung an Polen, so wie | |
| vor dem sowjetischen Überfall 1939. Viele Ukrainer bevorzugten einen | |
| eigenen Nationalstaat. Stalin schließlich ging es um eine | |
| Wiedereingliederung des Gebiets in die Ukrainische Sowjetrepublik. | |
| Wer ist Täter, wer Opfer? | |
| Die Kurzfassung der Geschichte lautet, dass Moskau diese | |
| Wiedereingliederung gelang. Verbunden war dies freilich mit | |
| hunderttausenden Toten und Vertriebenen. Alle Polen hatten auf Geheiß | |
| Moskaus Lemberg zu verlassen. Aber wer hier die Täter, wer die Opfer waren, | |
| das rührt an eine Erzählung, die über Jahrzehnte hinweg in der UdSSR und | |
| ihren Satelliten tradiert worden ist. | |
| Diese Erzählung trägt einen Namen: [2][Stepan Bandera.] Der ukrainische | |
| Nationalist hatte 1941 den Einmarsch der Wehrmacht unterstützt und mit den | |
| Deutschen kollaboriert. Seine Ukrainische Aufständische Armee OUN wechselte | |
| erst 1943 die Seiten. Danach bekämpfte deren militärischer Arm UPA | |
| sowjetische Truppen und ermordete polnische Zivilisten. | |
| Das Ziel: ein ethnisch reiner ukrainischer Staat. Mehr als 150.000 Menschen | |
| starben, 200.000 Ukrainer ließ Stalin deportieren. Der Konflikt endete erst | |
| Anfang der 1950er Jahre. | |
| War dies also eine Art Befreiungsbewegung? Nein, sagte Struve mit | |
| dankenswerter Klarheit, es handelte sich um eine „verbrecherische | |
| Organisation“. Tatsächlich kämpften in der UPA desertierte Polizisten, die | |
| den Nazis beim Judenmord geholfen hatten. Blikharska berichtete über die | |
| jüngste polnisch-ukrainische Aussöhnung. Sie machte klar, dass Bandera in | |
| der heutigen Ukraine durchaus unterschiedlich betrachtet werde. | |
| Mitten im aktuellen Krieg | |
| Deshalb war der Abend in Berlin-Karlshorst so strittig. Es ging hier nicht | |
| um das Unterkapitel einer vernachlässigenswerten Geschichte; vielmehr | |
| befanden wir uns mitten im aktuellen Krieg zwischen Russland und der | |
| Ukraine, insbesondere aber bei Putins Begründung, man müsse den Nachbarn | |
| „denazifizieren“. Ukrainischer Nationalstaat und Faschismus, das geht bei | |
| Putin Hand in Hand. | |
| In Lemberg findet eine lebendige Debatte um Geschichte statt, betonte | |
| Blikharska. Das selektive historische Gedenken aus Sowjetzeiten gehöre der | |
| Vergangenheit an. Es gehe ihr darum, die damaligen Vorstellungen aller | |
| Bewohner Lembergs zu erforschen, der Ukrainer, Polen und Juden. | |
| Von einer solchen Diskussion über den Stalinismus und seine Verbrechen sei | |
| Moskau dagegen weit entfernt, sagte Historiker Struve. Deshalb kommt Putin | |
| mit seiner Legende von den Faschisten in Lemberg bei den Russen durch. So | |
| macht er Geschichte zur Waffe. | |
| 24 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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