# taz.de -- Friedhofsgeschichte in der Ukraine: Die Seelen der Toten | |
> Das Marsfeld in Lwiw ist ein Soldatenfriedhof. Auch die seit Kriegsbeginn | |
> am 24. Februar 2022 getöteten ukrainischen Kämpfer werden hier beweint. | |
Bild: Die Andenken auf den Gräbern erzählen die Geschichten der dort bestatte… | |
Lwiw taz | Erinnerungsort und eins der Wahrzeichen von Lwiw: das Marsfeld. | |
Hier bestattete die UdSSR ihre Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg in den | |
Kämpfen um Lwiw und dann im Kampf gegen die ukrainische Nationalbewegung | |
starben. Bis dahin war das Marsfeld eine Wiese auf dem [1][historischen | |
Lytschakiw-Friedhof], etwa so breit wie ein Fußballplatz und dreimal so | |
lang. Erst die Sowjetregierung gab dem Ort seinen Namen – benannt nach dem | |
römischen Gott des Kriegs. | |
Seit eineinhalb Jahren finden auf dem Marsfeld auch diejenigen ihre letzte | |
Ruhe, die für die Ukraine gestorben sind. Steht wieder mal eine Beerdigung | |
an, erstarrt der Marktplatz im Zentrum von Lwiw im Westen der Ukraine für | |
einige Minuten in Stille, und der Stadttrompeter, der traditionell im | |
Rathaus die Hymne von Lwiw spielt, stimmt auf dem Platz die letzte Melodie | |
für den Toten an. Dann wird der Leichnam zum Marsfeld gebracht. Mit ihm | |
ziehen viele Menschen zum Lytschakiw-Friedhof, [2][Verwandte und Freunde | |
des Toten]. | |
Jedes Grab, und davon gibt es hier mehrere Hundert, sieht aus wie ein | |
winziges Haus. Innen finden sich intime Räume, die die Angehörigen der | |
Verstorbenen individuell errichten. Über den Gräbern, als würden dort die | |
Seelen der Toten schweben: Laternen, Girlanden, Blumenberge, Fotos von | |
Männern und Frauen, Kreuze, schier unendlich viele Fahnen. Fast täglich | |
werden neue Grabhügel aufgeschüttet. | |
Die Fahnen, aber auch andere Andenken, die Verwandte an den Grabstätten | |
angebracht haben, verraten einiges über Männer, die hier liegen. Anhand der | |
Flaggen der Einheiten, für die sie gedient haben, über Sportmedaillen, den | |
Schal eines Fußballvereins. Auf einem Grab liegt ein Porträt des Getöteten, | |
das sein Kind gemalt hat. An einem anderen hängt das Bild eines | |
gezeichneten Panzers, darunter die Worte: „Ich liebe Papa.“ Eine Flasche | |
Coca-Cola und Whisky, Bier der Marke Lwiwske Rizdwynae, Süßigkeiten, ein | |
Kimono-Gürtel. | |
In letzter Zeit sieht man vermehrt Gruppen junger Leute auf dem Marsfeld. | |
[3][Seit Russland am 24. Februar 2022 seinen Krieg auf die gesamte Ukraine | |
ausweitete], ist ein neuer Brauch entstanden: Mitschüler eines Verstorbenen | |
veranstalten zu seinem Geburtstag eine Trauerfeier in der Kirche und | |
kommen danach zum Marsfeld. | |
## Gedichte auf dem Marsfeld | |
Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wurden in Lwiw auf dem österreichischen | |
Soldatenfriedhof beigesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich Lwiw | |
wieder innerhalb der Grenzen der UdSSR befand, zerstörten die sowjetischen | |
Behörden dort viertausend Gräber. Auf mehreren Reihen roter und schwarzer | |
Granitplatten errichteten sie dort stattdessen ein Denkmal für sowjetische | |
Soldaten. Die Geschichte eines Ortes ist immer auch eine Frage von | |
Deutungshoheit. | |
Die Sowjetunion existiert seit 1991 nicht mehr, und im gleichen Jahr | |
erklärte sich die Ukraine unabhängig. Erst 2021 wurde der Eiserne | |
Sowjetische Orden des Großen Vaterländischen Krieges aus dem 2016 | |
eröffneten Museum „Territorium des Terrors“ drei Kilometer weiter nördlich | |
vom Friedhof entfernt. Gefordert hatte dies unter anderem der Lwiwer | |
Dichter Juri Ruf. Er las zu dem Anlass seine Gedichte auf dem Marsfeld vor. | |
Im Februar 2022 meldete sich Ruf zum Dienst bei der Armee. Am Abend des 1. | |
April 2022 starb er 41-jährig in einer Schlacht in der Nähe von Luhansk. | |
Jetzt befindet sich seine letzte Ruhestätte in einer der ersten Reihen von | |
Gräbern der gefallenen Verteidiger der Ukraine. Auch eine Straße wurde nach | |
ihm benannt. | |
In Lwiw sagt man: „Wenn es dir schwer ums Herz ist, wenn du das Gefühl | |
hast, aufgeben zu müssen, dann komm zum Marsfeld.“ Dort, zwischen den | |
Gräbern, könne man in die Gesichter junger Männer sehen, die gekämpft und | |
nicht aufgegeben haben. Hier sei es einfach, das eigene Leben und die | |
Menschen um einen herum wertzuschätzen. Und die Einwohner*innen von | |
Lwiw kommen. Es ist ihre Art, denen gegenüber Dank zu zeigen, die ihr Leben | |
für sie gegeben haben. | |
Doch das soll nicht alles sein: Bald soll es für die Helden der Ukraine auf | |
dem Marsfeld eine eigene Gedenkstätte geben. Aktuell läuft die | |
Ausschreibung dafür. | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
28 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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