Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Protestantische Gemeinden in der Ukraine: Eine wechselvolle Geschic…
> Protestanten sind in der Ukraine eine kleine Minderheit. Der Krieg
> verändert auch ihre Gemeinden – und die Aufgaben der Kirche.
Bild: Denkmalgeschützt, aber der Gemeinde fehlt das Geld für die Sanierung di…
Auch wenn der Putz bröckelt, sehen die Wände des Kirchenschiffs wuchtig und
stabil aus. Doch der Eingang hinter der breiten Vortreppe ist mit
Betonquadern abgesperrt. Durch die Lücken kann man sehen, dass das Dach
fehlt und sich die Natur den Innenraum zurückgeholt hat. Es grünt und
blüht, wo einst Kirchenbänke standen. Über dem Eingang steht auf Russisch
„Kulturhaus“ geschrieben.
Die Ruine im südukrainischen Dorf Nowodariwka steht symbolisch für den
Zustand der [1][Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche] der Ukraine:
erst ambitioniert, dann bedrängt, verlassen – und doch immer noch da.
Pastor Alexander Gross stapft in Sandalen um die Ruine herum und versucht
dem Unrat auszuweichen, der sich angesammelt hat. „Schauen Sie, wie massiv
die Fundamente sind“, sagt er. Das Gebäude sei denkmalgeschützt, aber die
Gemeinde könne sich eine Sanierung nicht leisten.
Viele Probleme der Kirche haben sich durch den Krieg verschärft, und sie
hat noch neue Aufgaben hinzugewonnen, zum Beispiel in der Betreuung von
Geflüchteten. Die Delku, wie die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche
der Ukraine sich selbst abkürzt, ist in der vielfältigen religiösen
Landschaft der Ukraine eine Randerscheinung. Die meisten Christen gehören
einer der orthodoxen Kirchen an. Besonders im Westen des Landes ist die
Griechisch-Katholische Kirche stark vertreten. In vielen großen Städten
gibt es zudem jüdische Gemeinden, Krimtataren sind überwiegend Muslime.
## Gottestdienst im Container
Die Gemeinde von Alexander Gross trifft sich zum Gottesdienst in einem
Container ein paar Straßen weiter. Neben dem weißen Leichtbau hängt eine
Glocke an einem Stahlgestell. In einem Haus auf demselben Grundstück wohnt
Gross mit seiner Ehefrau Aliona. Viele Gläubige kämen nicht mehr hierher,
erzählt er. Eine gute Handvoll Erwachsene seien es beim Gottesdienst in
diesem Dorf. Die große Mehrheit der Gemeindemitglieder sei nach dem Beginn
von Russlands Angriffskrieg nach Deutschland geflohen, zu dem die
Kirchenmitglieder eine besondere Beziehung haben.
Im Keller des Hauses sind mehrere Räume ausgebaut. Hier können die Kinder
aus der Umgebung [2][auch bei Luftalarm] am Nachhilfeunterricht
teilnehmen. „Das ist für alle offen, unabhängig von der Konfession“, sagt
Gross. Es gebe hier auch Spielsachen und natürlich werde auch gebetet. Von
14.20 Uhr bis 14.50 Uhr steht Bibelgeschichte auf dem Stundenplan, der an
der Pinnwand hängt. „Das hier ist aber das Wichtigste für die Eltern“, sa…
Gross und zeigt auf die zwei Mahlzeiten, die auch im Stundenplan stehen.
„Die meisten Kinder kommen aus benachteiligten Familien.“
Gross ist 50 Jahre alt, er ist in einer deutschstämmigen Familie in
Stawropol im Nordkaukasus geboren. Seit rund 20 Jahren arbeitet er als
Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Region. Derzeit betreut
er Gemeinden in fünf Orten. „Das ist eigentlich zu viel“, sagt er. Aber es
gebe eben nicht genug Pfarrer.
Die Delku ist jahrzehntelang von evangelischen Kirchen aus Deutschland
unterstützt worden. Heute hat sie 18 Gemeinden, unter anderem in den
Großstädten Kyjiw, Charkiw und Odessa. Aber auch in kleineren Orten wie
Nowodariwka. Aber viele Gläubige gebe es nicht mehr, sagt Gross. Er
schätzt, dass es vielleicht noch 1.000 sind in der ganzen Ukraine. Vor zehn
Jahren seien es etwa dreimal so viele gewesen.
In [3][der Region Odessa] ist die Geschichte der Kirche eng verwoben mit
den Schwarzmeerdeutschen. Nachdem Russland sich unter Katharina II. die
nördliche Schwarzmeerküste angeeignet hatte, wurden Siedler ins Land
gerufen mit allerlei Versprechungen wie etwa Steuerfreiheit. In der Region
ging es vor allem darum, den Ackerbau in der dünn besiedelten Gegend
anzukurbeln. Unter anderem in der Region Odessa entstand so um die Wende
vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Reihe von Kolonistendörfern – getrennt
nach katholischem und evangelischem Glauben – entlang des Flüsschens
Baraboj.
Ein Teil der Nachkommen wurde nach dem Überfall Nazideutschlands auf die
Sowjetunion 1941 nach Zentralasien deportiert. Die Nazis wiederum
schickten die Übrigen 1944 bei ihrem Rückzug aus der Ukraine ins besetzte
Polen. „Die deutsche Geschichte dieser Dörfer endete eigentlich im März
1944“, erklärt Gross.
Die Dörfer waren menschenleer. Erst mehrere Jahre später habe die
Sowjetunion Menschen aus der Zentralukraine in die Region deportiert.
Viel los ist nicht an diesem Wochentag Anfang September. Gänse watscheln
ungestört auf der Straße. Viele der Häuser in den Dörfern sehen verlassen
aus. „Aber in einigen von denen wohnen noch Menschen“, sagt Gross. Die
Dorfbevölkerung sei arm. Wer jung sei und gut ausgebildet, sei oft schon
vor langer Zeit weggezogen. Nur ein paar Bewohner des Dorfs hätten Jobs im
nahen Odessa.
Deshalb sei Sozialarbeit ein Schwerpunkt für die Kirche. Sozialarbeiterin
Kateryna Chrystina hat viel zu tun, erzählt sie. 1.500 Haushalte in den
umliegenden Dörfern stehen auf ihrer Liste. „Jeden Tag besuche ich mehrere
davon.“
Es gehe zunächst darum, herauszufinden, was die Menschen ganz praktisch
brauchen. Von der Babyausstattung bis zur Gehhilfe kann alles dabei sein.
„Dann versuchen wir, das zu besorgen.“
Im Dorf Petrodolynske, das mal Peterstal hieß, steht das einzige neue
Kirchengebäude. Es wurde in den 1990er Jahren gebaut, als viele
deutschstämmige Familien aus Zentralasien in die Ukraine kamen. Die
Bundesrepublik finanzierte damals den Bau von Häusern in der Ukraine, die
die deutschstämmigen Familien günstig erwerben konnten. In der Bonner
Republik wollte man so die Zuwanderung aus der Sowjetunion bremsen.
Das bescherte damals auch der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der
Ukraine neuen Zulauf. Mit weiß getünchten Wänden steht das einstöckige
Gebäude auf einem weitläufigen Grundstück. Daneben gibt es einen Spielplatz
und eine Sitzecke mit Grill. Das Gebäude bietet nicht nur Platz für den
Gottesdienst, sondern auch für Veranstaltungen und Kinderbetreuung.
Im Schatten des Vordachs sitzen Swetlana und Maryna. Die beiden Frauen
wohnen mit ihren eigenen Familien und zwei weiteren nebenan im Gebäude der
früheren Bibelschule. Sie sind im November 2022 aus dem Dorf Smijiwka in
der Oblast Cherson geflohen. Nach acht Monaten russischer Besatzung war das
Dorf am Ufer des damals noch gefüllten Stausees von Nowa Kachowka zwar von
der ukrainischen Armee befreit worden. Doch seitdem wird es von der anderen
Flussseite des Dnipro aus von Russen mit Artillerie beschossen. Auch in
Smijiwka gab es eine evangelische Kirche, sie wurde getroffen.
„Wir sind froh, dass wir jetzt hier in Sicherheit sind“, sagt Maryna.
Während der Besetzung durch die Russen habe sie große Angst gehabt. „Die
russischen Soldaten haben geplündert und sind betrunken mit ihren Panzern
durchs Dorf gefahren.“
Ihre Familie versuche sich nun einzurichten, so gut es eben gehe. Der
sechsjährige Sohn gehe zur Grundschule. Ob sie jemals zurückkehren können,
sei ungewiss. Swetlana sagt: „Unser Haus ist komplett zerstört.“
Für die Kirchengemeinde in Petrodolynske sind die geflüchteten Familien
allerdings so etwas wie ein Jungbrunnen. Nicht nur füllen sie teilweise die
Lücke, die die ins Ausland geflüchteten Gemeindemitglieder hinterlassen
haben. „Endlich haben wir wieder Kinder in der Gemeinde“, sagt Gross. Bis
zum Jahresende soll es deshalb mehr Platz für die Neuen geben. Auf dem
Nachbargrundstück sollen zwei Einfamilienhäuser in Modulbauweise
aufgestellt werden.
15 Oct 2023
## LINKS
[1] /Evangelische-Kirche-postkolonial/!5939736
[2] /Raketenangriffe-auf-die-Ukraine/!5919868
[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5944202
## AUTOREN
Marco Zschieck
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Evangelische Kirche
Protestanten
Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ehrenamtliche Hilfe in der Ostukraine: Solidarische Tüten
Seit 2014 bestimmt der Krieg den Alltag in dem Dorf Kateryniwka. Nur noch
ein paar Dutzend Menschen leben dort. Und sie brauchen Hilfe. Ein Besuch.
Krieg in der Ukraine: Schwere Kämpfe rund um Awdijiwka
Russische Soldaten versuchen, die Industriestadt zu umzingeln. Auch in
anderen Gegenden der Ostukraine wird das ukrainische Militär verstärkt
angegriffen.
Friedhofsgeschichte in der Ukraine: Die Seelen der Toten
Das Marsfeld in Lwiw ist ein Soldatenfriedhof. Auch die seit Kriegsbeginn
am 24. Februar 2022 getöteten ukrainischen Kämpfer werden hier beweint.
Religion in der Ukraine: Fünf Jahre Haft für Kirchenmann
Der Metropolit Ionafan soll den russischen Angriffskrieg geleugnet und die
Integrität der Ukraine in Frage gestellt haben. Nun muss er ins Gefängis.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.