# taz.de -- Alltag in der Ukraine: Die Gräber von Lwiw | |
> Im Westen der Ukraine ist kein Krieg, doch seine Spuren durchziehen den | |
> Alltag. In der Kirche, bei der Blumenverkäuferin, auf Friedhöfen. | |
Bild: Der Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw ist ein besonderer Ort | |
LWIW taz | Am Spätsommernachmittag wirkt Lwiw friedlich und voller Leben. | |
Die Menschen spazieren auf dem breiten Boulevard. Gleich neben dem großen | |
Denkmal für den Nationaldichter Taras Schewtschenko hat ein Schlagzeuger | |
sein Instrument aufgebaut. Zu den Klängen mehr oder weniger patriotischer | |
Musik aus der Konserve trommelt er für die Spaziergänger. Im benachbarten | |
Garten eines Cafés im Wiener Stil ist jeder zweite Tisch besetzt. Nicht | |
schlecht für einen Wochentag. Man kann in der Ukraine kaum weiter entfernt | |
[1][von der Front] sein als in dieser Großstadt, 90 Kilometer vor der | |
polnischen Grenze. Doch das Sterben ist auch hier präsent. | |
Das Kontrastprogramm läuft, keine 50 Meter entfernt, in der früheren | |
Jesuitenkirche. Einige der historisch wertvollen Kirchenfenster sind mit | |
Spanplatten verkleidet, um bei einem Angriff Splitter aufzuhalten. Aus dem | |
Inneren erklingt Gesang. Rund 50 Besucher haben sich zur Nachmittagsmesse | |
versammelt, auch ein paar Soldaten in Uniform. Ein Geistlicher der | |
Griechisch-Katholischen Kirche in einem weißen, bestickten Gewand hält die | |
Zeremonie ab. | |
Der mächtige, rund 400 Jahre alte Barockbau heißt inzwischen offiziell | |
Garnisonkirche St.Peter und Paul und gehört dem Zentrum für | |
Militärseelsorge. Nach der Besetzung durch die Sowjetunion flohen die | |
Jesuiten. Der im Krieg demolierte Sakralbau wurde zum Buchdepot der | |
Akademie der Wissenschaften umfunktioniert. Das hat das Gebäude | |
wahrscheinlich gerettet. Seit 2008 hat die Ukrainische | |
Griechisch-Katholische Kirche hier die Hoheit. Sie ist die größte | |
Glaubensgemeinschaft im Westen der Ukraine. Zwar folgt sie dem Ritus der | |
Ostkirchen, jedoch untersteht sie dem Papst. | |
Im Seitenschiff der Militärkirche sind zerstörte Waffen aus acht Jahren | |
russischen Kriegs gegen die Ukraine ausgestellt. Auch eine Kassette für | |
verbotene Clustermunition ist darunter. Daneben sind auf einer Tafel die | |
Porträts von gefallenen ukrainischen Soldaten zu sehen. Seit Februar sind | |
neue Porträts dazugekommen. | |
## Der Freund, der im Sommer heiraten wollte | |
„Wir haben jeden Tag eine oder zwei Trauerfeiern“, sagt Kaplan Roman | |
Mentuch nach der Messe, zurück in seinem Büro. „Heute Morgen habe ich einen | |
28-Jährigen begraben. So alt wie ich.“ Er erzählt: „Das da draußen sind | |
nicht nur Fotos. Das sind unsere Freunde gewesen.“ Viele kannte er | |
persönlich, manche habe er verheiratet. Eine der ersten Beerdigungen nach | |
Beginn der Invasion im Februar sei ein enger Freund gewesen. „Er wollte im | |
Sommer heiraten.“ | |
Mentuch ist seit 2019 Militärkaplan. Die Aufgabe sei emotional belastend, | |
aber er mache sie immer noch gern. Die Hälfte der Zeit ist er in Lwiw, die | |
andere Hälfte verbringt er mit Besuchen bei den Einheiten aus der Region – | |
auch im Frontgebiet. Wieder in Lwiw zu sein fühle sich für ihn an wie | |
Ferien. | |
Mentuchs Hauptaufgabe ist der spirituelle Beistand für die Gläubigen, aber | |
auch emotional und psychologisch unterstützt er sie. Seit Februar habe er | |
viel mehr mit Hinterbliebenen zu tun. „Keine Worte können helfen. Das | |
wissen wir“, sagt er. „Aber wir können zuhören, zusammenstehen und beten.… | |
Darüber hinaus versuche die Einrichtung auch praktisch zu helfen. So habe | |
man beim Spendensammeln und bei der Beschaffung von Helmen, Schutzwesten | |
und Medizin geholfen. Auch ein Auto für Evakuierungen wurde besorgt. | |
Außerdem werde Geld für die Rehabilitation Verwundeter gesammelt. | |
## Für Trauergestecke ruft man nach Anna | |
Für Floristin Anna bedeuten die vielen Beisetzungen traurige Nachfrage. Die | |
22-Jährige hat einen Stand am Blumenmarkt, am Rand der Altstadt. Ein gutes | |
Dutzend Verkäuferinnen bieten im Inneren ihre Waren an. Es duftet nach | |
allem, was blühen kann. Fragt man nach Trauergestecken, rufen die | |
Kolleginnen nach Anna. „Meistens melden sich die Einheiten der Gefallenen | |
direkt von der Front“, erzählt sie. Dann könne sie alles vorbereiten. Auf | |
ihrem Smartphone zeigt sie ihre Arbeiten aus der letzten Zeit. Es sind | |
Bilder von mehreren Dutzend Kränzen und Gestecken. Oft sind die Farben Bau | |
und Gelb dabei und fast immer Sonnenblumen. | |
[2][Die gefallenen Soldaten] werden in der Regel zur Beisetzung in ihre | |
Heimatorte gebracht. Einen zentralen Ort gibt es also nicht. Allein in Lwiw | |
gibt es etwa ein Dutzend Friedhöfe. Ein besonderer Ort ist der | |
Lytschakiwski-Friedhof. Aufwendig gestaltete Grabmäler sind zu sehen. Lange | |
wurden hier Angehörige der polnischen Oberschicht bestattet. Unter | |
Sowjetherrschaft ist vieles verfallen, seit einigen Jahren wird | |
restauriert. Auf dem Areal sind auch viele Opfer von Aufständen und Kriegen | |
des 19. und 20. Jahrhunderts bestattet. Ein Friedhof, der die Geschichte | |
der Stadt widerspiegelt. | |
Am Südeingang befindet sich eine Gedenkstätte. In einem Oval um eine | |
Kapelle sind Gräber angeordnet. Die Grabsteine haben alle das gleiche | |
Design in Form des Wappenkreuzes der ukrainischen Streitkräfte und | |
goldfarbene Inschriften. In der Mitte ist jeweils ein Porträtfoto | |
angebracht. Ungefähr 70 solche Ehrengräber sind seit 2014 angelegt worden. | |
Die neueren Gräber aus diesem Jahr nehmen ungefähr gleich viel Fläche ein. | |
Sie haben noch keinen Grabstein, sondern Holzkreuze. Doch der Platz reicht | |
nicht mehr aus. | |
Im nördlichen Teil des Friedhofs liegt eine Wiese, die den Namen Marsfeld | |
trägt – benannt nach dem römischen Gott des Kriegs. Die Rasenfläche ist | |
etwa so breit wie ein Fußballplatz und etwa drei mal so lang. Der Länge | |
nach wird sie von einem Streifen aus rötlich eingefärbtem Beton mit drei | |
Streifen auf dunkelbraunen Granitplatten durchzogen. Darauf sind die Namen | |
von gefallen Sowjetsoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg eingraviert. | |
## Gestorben zwischen Anfang und Mitte Zwanzig | |
Wegen der rötlich-braunen Farbgebung sei das Monument in Lwiw umstritten, | |
erzählt ein Besucher. Sie erinnere an [3][das zaristische Georgsband], das | |
einst Stalin als Auszeichnung in der Roten Armee wiedereingeführt hatte und | |
das auch ein Symbol der heutigen russischen Aggression ist. | |
Zwischen der alten Friedhofsmauer und dem Weltkriegsmonument liegen die | |
jüngst Verstorbenen des Kriegs begraben. Die Gräber sind meist mit einem | |
Holzkreuz markiert, auf dem Name sowie Geburts- und Todestag stehen. An | |
vielen ist auch ein Foto angebracht. Die meisten sind zwischen Anfang und | |
Mitte zwanzig getötet worden. | |
Auch die schon ein paar Monate alten Gräber sind mit frischen Blumen | |
geschmückt. An den meisten ist eine ukrainische Fahne angebracht, an | |
einigen auch die Fahne der Luftlandebrigade, die eigentlich in der Region | |
stationiert ist. Ähnlich oft ist die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen | |
Aufständischen Armee zu sehen. Im Zweiten Weltkrieg [4][kollaborierte die | |
UPA zeitweise mit dem nationalsozialistischen Deutschland] und bekämpfte | |
die Polnische Heimatarmee. | |
An einem Mittwochabend ist es still auf dem Marsfeld. Nur eine Handvoll | |
Trauernde sind vor Ort. Ein Paar kümmert sich um Blumenschmuck und Kerzen | |
an einem der Gräber am oberen Ende. Ein Mann steht einfach nur da, inmitten | |
der Gräber. Am Fußende eines Grabes, ein paar Reihen weiter unten, kniet | |
eine Frau und weint still. In der letzten Reihe neben den bestehenden | |
Gräbern ist ein neues Grab schon ausgehoben. | |
15 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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