# taz.de -- Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine: Versteckt im eigenen Land | |
> In der Ukraine können Männer jederzeit zum Militär eingezogen werden. | |
> Michail Nasarenko – jung, queer, gut ausgebildet – will nicht an die | |
> Front. | |
Bild: Vielerorts in der Ukraine wird mit patriotischen Graffiti und Plakaten f�… | |
Nach vier Tagen verlässt Michail Nasarenko zum ersten Mal wieder seine | |
Wohnung. Eilig läuft der junge Mann an diesem sommerlichen Mittag die | |
Seitenstraße einer westukrainischen Großstadt entlang. Zwei Minuten braucht | |
er bis zum Treffpunkt: ein studentisches Café auf dem Unicampus. Michail | |
Nasarenko ist angespannt. In Zeiten wie diesen könnte ein solcher Ausflug | |
sein ganzes Leben umwerfen. | |
Im Café wählt er einen Tisch in der hintersten Ecke. Der bietet ihm einen | |
guten Überblick über den Raum. Kreative, Queers und Studierende sitzen | |
hier. Sie tragen bunte Kleidung. Es wird geplaudert, an manchen Tischen | |
gelacht. An anderen wirken die Gäste ernst und nachdenklich. Der Krieg ist | |
auch an diesem Ort allgegenwärtig. | |
Michail Nasarenko hat das Uni-Café nicht ohne Grund ausgewählt. Er ist | |
selbst jung, queer und gut ausgebildet. Er fällt hier nicht weiter auf. | |
Wenn er sich überhaupt in der Öffentlichkeit bewegt, ist Unauffälligkeit | |
für ihn inzwischen ein wichtiges Kriterium. | |
[1][Seit Russland die Ukraine überfallen hat], werden im Land | |
kampftaugliche Männer von der Straße weg rekrutiert. Auch er könnte | |
jederzeit eine Einberufung zugesteckt bekommen. Er will nicht in den Krieg. | |
Er kämpft an einer anderen Front, der zivilgesellschaftlichen. | |
Michail Nasarenko heißt in Wirklichkeit anders. Wer nicht kämpfen will, | |
gilt in der Ukraine dieser Tage als Persona non grata. | |
Kriegsdienstverweigerung ist eine Straftat. Zu Nasarenkos Schutz wurden | |
deshalb auch sein Aufenthaltsort und die Organisationen, in denen er sich | |
engagiert, anonymisiert. | |
Mit seiner Weigerung, in den Krieg zu ziehen, ist Michail Nasarenko nicht | |
allein. Zwar sind die ukrainischen Männer, die nicht kämpfen wollen, in der | |
Unterzahl, doch sie gewinnen zunehmend an Präsenz. Nicht zuletzt wegen | |
[2][einer Online-Petition], in der sich ein Rechtsanwalt gegen die aktuelle | |
Praxis der Mobilisierung aussprach: Innerhalb weniger Tage wurde sie 27.000 | |
Mal unterzeichnet. Kritik an der Art der Mobilisierung kommt inzwischen | |
auch aus der Armee und sogar vom Verteidigungsminister selbst. | |
Was sind die Gründe der Männer, die nicht kämpfen wollen? Und was bedeutet | |
diese Entscheidung für ihr derzeitiges Leben in der Ukraine? Die taz ist in | |
mehrere Regionen des Landes gereist und hat mit Kriegsdienstverweigerern | |
aus verschiedenen Milieus gesprochen. Aus Angst vor Konsequenzen wollten | |
die meisten nur Hintergrundinformationen beisteuern. Lediglich Michail | |
Nasarenko stimmte einem anonymisierten Bericht über seine Lage zu. | |
Vor dem russischen Angriff wurden in der Ukraine Männer zwischen 18 und 27 | |
Jahren für 9 bis 18 Monate zum Militärdienst eingezogen – es sei denn, sie | |
wiesen einen religiösen, familiären oder gesundheitlichen | |
Ausmusterungsgrund vor oder leisteten einen sozialen Ersatzdienst. Nun | |
verpflichtet das neue Mobilisierungsgesetz sämtliche Männer zwischen 18 und | |
60 Jahren dazu, sich in den Rekrutierungsbüros zu melden, den sogenannten | |
Wojenkomats. | |
Aushänge in Bahnhöfen, Hostels und Hotelfoyers erinnern daran. Und nicht | |
nur sie: In belebten Großstadtvierteln werben bekannte Militäreinheiten um | |
freiwillige Meldungen, zum Beispiel der früher für seine rechtsradikalen | |
Mitglieder berüchtigte „Rechte Sektor“, mittlerweile eine reguläre | |
Armee-Einheit. „Verteidige die Nation gegen die Moskauer Okkupanten. Komm | |
in die Reihen der Freiwilligen!“, steht auf den Plakaten des Sektors, dazu | |
drei Handynummern. | |
Nach der Registrierung durchlaufen die Männer einen Gesundheitscheck. Wenn | |
sie als tauglich eingestuft werden, können sie von diesem Moment an | |
jederzeit eingezogen werden. Meist erst zu Trainings, dann direkt zum | |
Einsatz im Krieg. | |
Da sich nicht alle Männer freiwillig melden, verteilen auch Vertreter von | |
Polizei und Armee an jedem beliebigen Ort Briefe, auch Powistka genannt. | |
Sie enthalten entweder die Aufforderung zur Registrierung, zur | |
medizinischen Untersuchung oder direkt zum Militäreinsatz an der Front – je | |
nachdem, welche Schritte der Betreffende vorher schon absolviert hat. Wer | |
dann nicht innerhalb der gesetzten Frist von wenigen Tagen im Wojenkomat | |
erscheint, muss eine Strafe von 1.500 bis 3.400 Hrywnja zahlen, umgerechnet | |
rund 50 bis 110 Euro. Wer den Militärdienst aktiv verweigert, dem drohen | |
laut dem ukrainischen Kriegsrecht drei bis fünf Jahre Gefängnis. | |
Deshalb versuchen Männer wie Michail Nasarenko, jedes Zusammentreffen mit | |
Behördenvertretern zu vermeiden. Die meisten von ihnen bleiben im Land, | |
denn Wehrfähige dürfen die Ukraine aktuell nicht verlassen. Ausnahmen | |
gelten nur für bestimmte Gruppen, etwa für Männer mit besonders schweren | |
Erkrankungen oder Behinderungen. Auch Ukrainer, die sich nachweislich um | |
mindestens drei Kinder oder andere Bedürftige kümmern, können ausreisen. | |
Abgeordnete des Parlaments dürfen die Ukraine ebenso verlassen wie | |
Doktoranden und Wissenschaftler, die an ausländischen Universitäten tätig | |
sind. Alle anderen nicht. | |
Wie viele wehrfähige Ukrainer versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, ist | |
schwer zu schätzen. Man kann nur Hinweise sammeln. Einem Teil der | |
Bevölkerung sind etwa die Ausreiseregelungen zu streng. In einer | |
[3][Umfrage des Human Security Lab] der Universität von | |
Massachusetts-Amherst sprachen sich 28 Prozent der befragten Ukrainerinnen | |
und Ukrainer für eine Ausreise-Option wehrfähiger Männer aus. | |
Eine illegale Ausreise käme für Michail Nasarenko nicht infrage. „Dann | |
bleibe ich lieber hier“, sagt er. Andere interessieren sich schon dafür: | |
Bei Telegram gibt es mehrere öffentliche Kanäle mit bis zu 60.000 | |
Followern, die versprechen, bei der Flucht zu helfen. Sie bestehen meist | |
aus wenigen Einträgen, die zu kleineren, privaten Gruppen verlinken. Im | |
Telegram-Kanal „Belyj Bilet“ („Weißes Ticket“ − wie das | |
Ausmusterungsdokument umgangssprachlich genannt wird), werden | |
Ausreisedokumente für 50.000 Hrywnja (1.300 Euro) und mehr angeboten. Es | |
kursieren bei Telegram zudem etliche Geschichten, wie man die Kontrolleure | |
dazu bewegt, über die Grenze gelassen zu werden. Ein Mann hat demnach mit | |
Suizid gedroht, um passieren zu dürfen. | |
Die ukrainischen Tageszeitungen berichten auch von Schleusernetzwerken, in | |
Maisfeldern an der Grenze zu Moldau würden immer wieder Männer | |
festgenommen, heißt es. Nach Angaben der Polizei zahlen Ukrainer | |
umgerechnet 1.600 bis 7.000 Euro pro Person für so eine illegale Flucht. | |
## Chaos und Schikane | |
Die Bewegungsfreiheit ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter wurde zu | |
Beginn des Krieges teils auch innerhalb des Landes eingeschränkt. Die | |
ersten Kriegswochen, so erzählen wehrfähige Männer und ihre Angehörigen, | |
seien von Unklarheit, Missverständnissen und Chaos geprägt gewesen. So sei | |
manchen Männern der Zugang zu Evakuierungszügen verwehrt worden, auch wenn | |
sich die nur innerhalb der Landesgrenzen bewegten. Sogar bei der Flucht aus | |
den von Russen besetzten Gebieten sollen Männer von privaten Pkw-Fahrern | |
abgewiesen worden sein. | |
Solche Erfahrungen schwächen das Vertrauen in den Staat. Zum größten | |
Kritikpunkt wurde in den vergangenen Monaten aber die intransparente | |
Mobilisierungspraxis. Vor allem im Westen der Ukraine, aber auch in | |
östlicheren Regionen berichten Männer gegenüber der taz von ähnlichen | |
Erfahrungen: Die Vorladungen zur Musterung beziehungsweise zur Einberufung | |
werden scheinbar planlos und spontan an Passanten verteilt. Zwei bis drei | |
Polizisten stehen dann in Zivil vor Ämtern, Supermärkten, Kirchen, Post- | |
oder Bankgebäuden, vor Schwimmbädern und Kneipen − und drücken jedem, der | |
annähernd zur gesuchten Personengruppe passt, eine Vorladung in die Hand. | |
In einem konkreten Fall sei ein Mann um die 50 mit starker Sehschwäche | |
unfreiwillig eingezogen worden, erzählen enge Freunde von ihm. Nach wenigen | |
Wochen kam er von der Front zurück, da er sich vor Ort nicht bewährt habe. | |
Anfang Juli tauchte die Polizei mit den sogenannten Powistkas auch auf | |
einem Hippie-Festival in Transkarpatien auf. In Kiew wurden Vorladungen in | |
einem Nachtklub verteilt, der trotz Sperrstunde öffnete. Dass die | |
Behördenvertreter ausgerechnet dort tätig wurden, könnte einen Grund haben: | |
Vorladungen werden auch schon mal anstelle von Strafzetteln oder | |
Ordnungsgeldern verteilt, beispielsweise an Personen, die zu schnell Auto | |
fahren – oder eben die nächtliche Sperrstunde nicht einhalten. | |
Dabei melden sich schon seit Kriegsbeginn viele Männer freiwillig bei den | |
Rekrutierungsbüros, darunter viele mit Kampferfahrung aus dem Pflichtdienst | |
oder dem Krieg im Donbass. Oft werden diese Freiwilligen wieder | |
heimgeschickt: Man habe ihnen gesagt, dass man ihre Spezialisierung gerade | |
nicht brauchen könne, berichteten einige von ihnen der taz. | |
Michail Nasarenko versteckt sich auch vor dieser Willkür. Er bleibt fast | |
immer in der kleinen Wohnung, die er sich mit einer Freundin und Kollegin | |
teilt. Aus Sicherheitsgründen haben sie die Wohnung unter ihrem Namen | |
angemietet, erzählt er beim Treffen im Café auf dem Uni-Campus. | |
Als Programmierer kann er im Homeoffice arbeiten, egal wo. Am Tag nach der | |
russischen Invasion ist er aus Angst vor den russischen Angriffen und einer | |
möglichen Okkupation vom Landesinneren in den Westen gezogen. Er hat | |
Heimweh. Die neue Stadt erscheine ihm sehr konservativ, sagt er. Auch die | |
Ungewissheit, wie lange er hier noch ausharren muss, macht ihm zu schaffen. | |
Er ist überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg unbedingt gewinnen muss, um | |
weiter bestehen und ihren Weg zu einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen | |
Gesellschaft gehen zu können. Eigentlich war er immer gegen Waffengewalt. | |
Seit der russischen Invasion ist er dafür. | |
Progressiven Liberalen wie ihm sei bewusst geworden, dass das europäische | |
Konzept mit seinen Werten am Ende sei, sagt er. „Dieser Krieg hat alles | |
zerbrochen, was mir immer wichtig war: grüne Energie, Freiheiten und | |
Menschenrechte, keine Waffen – kein Krieg.“ | |
Michail Nasarenko, Ende zwanzig, schwul, setzt sich seit vielen Jahren | |
aktiv für die Zukunft seines Landes ein. Auf seine Weise: In NGOs, | |
Kleinparteien, auf Protesten und Demonstrationen kämpfte er für | |
Menschenrechte, die Gleichstellung von LGBTQ, für eine nachhaltige | |
Wirtschaft. Über viele seiner Aktivitäten wurde in den Medien berichtet. | |
Seine Posts und Videos wurden vielfach geteilt. | |
Jetzt gilt er vor dem Gesetz als Verbrecher. In seiner Exilwohnung hat | |
Michail Nasarenko die Vorhänge zugezogen und verhält sich möglichst still, | |
erzählt er. „Ich mache auch nachts kein Licht an, damit niemand bemerkt, | |
dass ich da bin.“ Nur selten geht er in den Supermarkt. „Essen kann ich | |
online bestellen und liefern lassen.“ | |
Seine Mitbewohnerin, die zu dem Treffen im Uni-Café dazugestoßen ist, | |
unterstützt ihn, so gut es geht. „Ich würde mich auch nicht zum Kämpfen | |
verpflichten lassen wollen“, sagt sie. „Ich will frei entscheiden können, | |
wie ich am Sieg der Ukraine mitarbeite.“ | |
Michail Nasarenko ist überzeugt: „Wenn du nicht gut ausgebildet bist, | |
schadest du an der Front mehr, als dass du hilfst.“ Er hat keine | |
militärische Erfahrung, nach der Schule hat ihn die medizinische Kommission | |
aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst befreit. Nach den | |
Einberufungsregeln im Kriegszustand aber würde man ihn, so befürchtet er, | |
wohl als wehrtauglich einstufen. | |
Michail Nasarenko hat breite Schultern. Dass er vor allem am Computer | |
arbeitet, verraten sein gerundeter Rücken und die weiche Haut an seinen | |
Händen. „Ich bin kein Outdoor-Typ. Mir würde es nicht einmal in den Sinn | |
kommen, ohne Dusche zu sein und draußen zu übernachten.“ Kurz lacht er über | |
sich selbst, bevor er wieder ernst wird. „Ich würde Depressionen bekommen | |
und die Kameraden belasten.“ Er sagt: „Ich würde an der Front nicht | |
hilfreich sein, aber das interessiert sie nicht. Sie ignorieren völlig, wie | |
du konkret der Ukraine nutzen kannst und welchen Beitrag du schon für die | |
Gesellschaft leistest.“ | |
Von seinem Versteck aus macht Michail Nasarenko sehr viel für die Ukraine: | |
Seit Februar organisiert er mithilfe seiner vielen Kontakte die Versorgung | |
von Flüchtenden. Er kümmert sich um die sichere Unterbringung queerer | |
Menschen und um digitale Weiterbildungsmöglichkeiten für diejenigen, die | |
neben ihrem Zuhause auch noch ihren Job verloren haben. Er sammelt auch | |
Spenden für Armee-Einheiten, denen es an der richtigen Ausrüstung oder | |
sonstigen Mitteln fehlt. | |
In der Ukraine ist es schon lange kein Widerspruch mehr, links und für das | |
Militär zu sein. Die russische Bedrohung hat spätestens seit 2014 dafür | |
gesorgt, dass die Armee auch in der linken, liberalen, sogar in der queeren | |
Community viel Zuspruch erfährt. Als Verteidigung gegen die homo- und | |
transphobe Ideologie der sogenannten russischen Welt. | |
„Ich kann doch viel nützlicher sein, wenn ich weiter Spenden und | |
Fördergelder für Projekte akquiriere. Ich will am Ende nicht verantwortlich | |
sein für schlechte militärische Entscheidungen“, sagt Michail Nasarenko. | |
Viele von jenen, die nicht an der Front kämpfen wollen, rechtfertigen sich | |
gegenüber der taz wie er damit, dass sie im Kampf nicht nützlich wären oder | |
nicht durchhalten würden. Die Angst vorm Sterben, die man wohl als | |
wichtigsten Grund erwarten würde, nennt niemand. Dafür die Panik vor | |
Explosionen. Und die Angst vor dem Töten: Er wisse nicht, ob er im | |
Ernstfall einen Menschen erschießen könne, auch wenn es ein Russe sei, der | |
sein Land gerade brutal zerstöre, sagt ein Mann aus dem Südosten des | |
Landes. „Wenn ich eingezogen werde, verweigere ich mich nicht“, sagt dieser | |
Mann. Selbst melden wird er sich aber nicht. | |
Michail Nasarenko fände es besser, wenn die Ukraine mit einer Berufsarmee | |
kämpfen würde. Seiner Meinung nach gibt es genügend Freiwillige, die zum | |
Militär wollen: „Wir haben ja schon seit acht Jahren Krieg. Viele wissen, | |
was das bedeutet, und viele wollen auch jetzt an die Front.“ | |
## Es regt sich Widerstand | |
Ob dieser Eindruck stimmt, ist unklar. Nach Angaben der Behörden gibt es | |
keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Personen sich freiwillig | |
zum Militär gemeldet haben. Das sagt jedenfalls ein Stabsleiter der | |
militärischen Landtruppen gegenüber dem ukrainischen Nachrichtenportal | |
[4][liga.net]. Er gibt zu bedenken, dass die Zahl der Freiwilligen sinke, | |
viele seien ja schon an der Front. Noch reichten die Meldungen aber aus: In | |
allen Regionen seien die Wartelisten voll, so der Armeesprecher. | |
Der Leiter eines Kiewer Mobilisierungsbüros dagegen äußerte sich im August | |
in einem Interview mit dem Nachrichtenportal [5][hromadske.org] deutlich | |
negativer. Das Interesse der Freiwilligen sei im Unterschied zu den ersten | |
Wochen stark zurückgegangen: „Auf 100 Personen kommen jetzt vielleicht noch | |
3.“ | |
Je länger der Krieg dauert, je mehr Männer eingezogen werden und je mehr | |
Opfer es gibt, desto größer dürfte auch der soziale Druck auf Menschen wie | |
Michail Nasarenko werden. Schon jetzt sind sie Ziel für Frust und | |
Aggression, vor allem in den sozialen Netzwerken. In den ersten | |
Kriegsmonaten wurden bei Tiktok und Facebook Posts geteilt, in denen | |
gefordert wurde, dass alle Wehrfähigen, die das Land verlassen haben, ihre | |
Staatsbürgerschaft verlieren sollten. | |
Influencer mit großer Gefolgschaft drohten ihnen im Internet | |
Strafverfolgung an, wenn sie sich trauten zurückzukommen, erinnert sich ein | |
aus gesundheitlichen Gründen Ausgereister. Auch im persönlichen Umfeld kann | |
das schwierig werden: Er erzählt, dass seine Schwägerin ihm Verrat vorwarf | |
an dem Tag, als sein Bruder und ihr Mann an die Front in die Region Donezk | |
geschickt wurde. | |
Gleichzeitig wird die öffentliche Debatte um die Mobilisierung immer | |
lauter. Da das Kriegsrecht Kundgebungen oder Demonstrationen verbietet, | |
bleibt als Protestmittel gegenüber der Politik nicht viel. Auch deshalb | |
startete der ukrainische Rechtsanwalt Oleksandr Humirow aus Odessa im Mai | |
seine Online-Petition gegen die Wehrpflicht und das Ausreiseverbot für | |
wehrfähige Männer. In der Begründung schrieb er: „Eine Person, die | |
gezwungen wird, ‚Verteidiger‘ zu werden, wird die Ukraine nicht effektiv | |
schützen.“ Die Art der Mobilisierung vergleicht er mit „totalitären | |
Methoden“. | |
Manches hätte Michail Nasarenko wohl sehr ähnlich formuliert. „Nicht jeder | |
sollte mit einem Gewehr im Graben sitzen. Viele sind in anderen Bereichen | |
effektiver. Insbesondere in der Wirtschaft, deren Steuern den Haushalt des | |
kriegführenden Landes füllen“, heißt es. Für den Rechtsanwalt sind das | |
Ausreiseverbot und die undurchsichtigen Mobilisierungspraktiken vor allem | |
ein Nährboden für Korruption: „Zu welchem Zweck geht man so vor? Um | |
Bestechungsgelder zu erhalten – die Logik legt nichts anderes nahe.“ | |
Oleksandr Humirows Petition wurde diskutiert, auch von vielen kritisiert, | |
weil sie die Kampfmoral schwächen könnte. Wenige Wochen nach Petitionsstart | |
löschte Humirow sein Facebook-Konto. Auf Telegram schreibt er weiter | |
kritisch über juristische Vorgänge, reagiert aber nicht auf | |
Direktnachrichten der taz. | |
Seine Petition hatte schon nach drei Tagen mehr als die nötigen 25.000 | |
Unterschriften, die den ukrainischen Präsidenten zu einer Reaktion | |
verpflichten. Selenski reagierte mit Unverständnis. In der offiziellen | |
Antwort beruft er sich auf das geltende Kriegsrecht, zählt Paragrafen auf, | |
die die Dienstpflicht und das Ausreiseverbot juristisch stützen. | |
Die Ukraine verweigere durch das verhängte Kriegsrecht ihren Bürgern ein | |
Menschenrecht, kritisiert der Verein Connection, der sich von Offenbach aus | |
international für die Rechte von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren | |
einsetzt. Über die Partnerorganisation „Ukrainische Pazifistische Bewegung“ | |
wisse der Verein von [6][Tausenden eröffneten Gerichtsverfahren] wegen | |
Kriegsdienstverweigerung, sagt Mitglied Rudi Friedrich. Es drohten | |
jahrelange Haftstrafen. „Das ist fürchterlich. Das Menschenrecht auf | |
Kriegsdienstverweigerung gilt doch nicht nur in guten Zeiten.“ Der Verein | |
schätzt die Zahl der ukrainischen Wehrdienstunwilligen auf mehrere 10.000. | |
Wer nicht irgendwie ins Ausland komme, müsse sich verstecken. „Krieg bringt | |
immer eine starke Polarisierung und Militarisierung der Gesellschaft mit | |
sich“, sagt Friedrich. Die Armee werde verherrlicht. „Das führt zu einer | |
starken Ausgrenzung derer, die da nicht mitmachen wollen. Sie sind einem | |
großen Risiko ausgesetzt.“ | |
Das gilt nun wohl auch für Russland. Nach Putins Mobilmachung in dieser | |
Woche dürfen Russen − bislang offiziell Reservisten − im wehrpflichtigen | |
Alter ihren Wohnort nicht mehr verlassen. Die Bilder von den russischen | |
Grenzübergängen und Flughäfen zeigen aber, dass sehr viele versuchen, der | |
Rekrutierung zu entgehen. | |
Der Krieg geht weiter, die Wehrpflichtregelung, die in der Ukraine zu | |
Friedenszeiten galt, wird so bald nicht zurückkommen. Die ukrainische | |
Regierung steuert zwar nach, allerdings nur minimal: Seit Juli diskutiert | |
das Parlament einen Gesetzentwurf, der einige Regeln zur Wehrpflicht | |
verändern würde. So soll es nun extra für IT-Spezialisten − ein den Autoren | |
des Entwurfs zufolge besonders wichtiger Wirtschaftszweig für die Ukraine − | |
lockerere Ausreisemöglichkeiten geben. Angehörige von im Krieg Gefallenen | |
könnten ebenfalls von der Verpflichtung zum Kampf entbunden werden. | |
Über die Sommermonate war auch vielfach von einer geplanten Ausweitung der | |
Wehrpflicht auf Frauen ab dem 1. Oktober berichtet worden. Damals hieß es, | |
dass sich zumindest Frauen aus bestimmten Berufsgruppen ab dem Herbst bei | |
der Armee registrieren sollten, damit das Militär im Bedarfsfall auf sie | |
zurückgreifen kann. Anfang September meldete das Verteidigungsministerium | |
aber, dass die Ausweitung aktuell nicht umgesetzt würde. | |
Kritik an den Mobilisierungspraktiken kommt indes auch aus der Armee | |
selbst. Der Blogger und Feldwebel Waleri Markus kritisierte im Juli [7][bei | |
Facebook], dass die auf der Straße „eingefangenen“ Soldaten an der Front | |
„mehr Probleme machen, als sie Nutzen bringen“. Nur „10 bis 15 Prozent“… | |
ihnen, so schreibt er, könne er gut einsetzen. Die überwiegende Mehrheit | |
sei „eine unmotivierte Masse“, die nur Schwierigkeiten mache und ihn | |
unnötig Zeit und Kraft koste. Eine rechtliche Regelung, wie er die | |
Störenfriede zurückschicken könne, gebe es nicht, beklagt er. Der Beitrag | |
des Feldwebels bekam 27.000 Likes und wurde 1.700 Mal geteilt. Es ist nur | |
einer von vielen Beiträgen, in denen er interne Probleme der Armee | |
thematisiert. | |
Und sogar Verteidigungsminister Oleksij Resnikow selbst verurteilte die | |
Rekrutierung auf der Straße. Durch das willkürliche Verteilen von | |
Vorladungen bekomme der Armeedienst das Image eines „Strafdienstes“, räumte | |
er gegenüber [8][BBC Ukraine] ein. Dabei sollten Soldaten aus Überzeugung | |
und Stolz ihr Land verteidigen. „Manchmal wird die Vorladung für das | |
Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung vergeben“, sagt Resnikow. „Ich | |
halte das für völligen Unsinn, denn dem Land zu dienen und das Land zu | |
verteidigen – das sollte definitiv keine Bestrafung sein.“ Resnikow | |
bezeichnet dieses Vorgehen als „Exzesse“. Sie zu unterbinden, hat er | |
offenbar noch nicht geschafft. | |
Michail Nasarenko ist überzeugt, dass er seinem Land nichts schuldig ist. | |
„Ich finde, ich habe schon so viel für die Ukraine gemacht: über zehn Jahre | |
Aktivismus, Arbeit für ukrainische Unternehmen, saubere Steuern. Das muss | |
doch reichen.“ | |
Er hat noch ein Argument, das ihm wichtig ist. Er richtet sich von seinem | |
Sofa im Café auf. Ruhig, aber bestimmt, sagt er: „Seit Jahren höre ich als | |
queere Person, dass ich nicht gleich bin. Aber jetzt, wo es ans Kämpfen | |
geht, bin ich plötzlich doch gleich genug wie alle anderen Männer?“ Kurz | |
überlegt er. „Dieser Staat will jetzt von mir, dass ich bereit bin, für | |
dieses Land zu sterben. Bevor ich für euch kämpfe, will ich erst die | |
gleichen Rechte und meinen Partner heiraten können!“ | |
Auch für die Ehe für alle gab es jüngst eine erfolgreiche Petition, die | |
beim Präsidenten auf deutlich mehr Verständnis stieß als die | |
mobilisierungskritische Petition zuvor. Doch der Queer-Aktivist glaubt | |
nicht an einen schnellen Durchbruch. Er wird sich weiter engagieren, weiter | |
online arbeiten. | |
Ändert sich an seiner Situation mittelfristig nichts, überlegt Michail | |
Nasarenko, ob er nicht doch nach einer passenden Promotionsstelle im | |
Ausland suchen soll. Es wäre für ihn eine Möglichkeit, dem Kriegsdienst zu | |
entkommen. Möglichst legal. Und: „Möglichst nah an der Ukraine, um weiter | |
meine Liebsten sehen und unterstützen zu können.“ | |
Bis dahin muss er sich weiter verstecken. Licht aus, Vorhänge zu. | |
25 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /-Nachrichten-zum-Ukraine-Krieg-/!5883528 | |
[2] https://petition.president.gov.ua/petition/139292 | |
[3] https://static1.squarespace.com/static/6036ca5c01be1f3ada2fcc09/t/62cf42404… | |
[4] https://www.liga.net/ua | |
[5] https://en.hromadske.ua/ | |
[6] https://de.connection-ev.org/article-3594 | |
[7] https://www.facebook.com/valerii.markus/posts/5285074561578008 | |
[8] https://www.ukrinform.ua/rubric-society/3529772-durna-povna-reznikov-vidrea… | |
## AUTOREN | |
Peggy Lohse | |
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