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# taz.de -- Esi Edugyans Roman „Washington Black“: Flucht im Wolkenkutter
> Brutales Thema, leichter Ton: Ein Sklave entkommt auf ungewöhnliche Weise
> aus Barbados. Jetzt ist „Washington Black“ auf Deutsch erschienen.
Bild: Die kanadische Autorin Esi Edugyan
Barbados, 1830. Der kleine George Washington Black, genannt Wash, wächst
auf einer Zuckerrohrplantage als Sklave auf. Die Sklav:innen leben unter
der Brutalität und Willkür ihres Masters Erasmus Wilde, der sie
verstümmelt, hängen oder gar bei lebendigem Leibe verbrennen lässt. Suizid
scheint der einzige Ausweg zu sein.
Doch Washingtons Leben ändert sich, als der Bruder des Masters, Christopher
„Titch“ Wilde, auf die Insel kommt. Er macht den Jungen zu seiner rechten
Hand, lehrt ihn Lesen und Schreiben. Früh zeigt sich, dass Washington ein
außergewöhnliches Talent zum Zeichnen hat – sehr zu Titchs Begeisterung,
denn er weiß dies für seine Zwecke zu nutzen.
Anders als man vermuten könnte, erzählt „Washington Black“, der neue Roman
der kanadischen Autorin Esi Edugyan, nicht von den letzten Jahren der
[1][Sklaverei] in Barbados. Zwar wurde 1833 der Slavery Abolition Act für
die Britischen Kolonien verabschiedet und in Barbados endgültig 1838
umgesetzt, doch Washs Story entwickelt sich unabhängig davon. Früh im Roman
sagt der 18-jährige Erzähler Washington: „Ich bin ein freier Mann, ich
allein bin im Besitz meiner Person.“
## Das Malen, die Freiheit
Diese Freiheit erlangt er auf ungewöhnliche Weise. Titchs großes Projekt,
bei dem ihm Wash hilft, ist der „Wolkenkutter“, ein von Ersterem
ausgetüfteltes Fluggerät. Als Washington Zeuge des Selbstmords eines weißen
Mannes und deswegen des Mordes verdächtigt wird, fliehen die beiden im
Wolkenkutter von der Plantage. Angekommen in Virginia, erleidet ihre
Beziehung einen Bruch: Titch will in die Arktis reisen, wo er seinen
eigenen Vater vermutet – und Wash beschließt, ihm zu folgen, aus blinder
Loyalität und gegen Titchs Willen.
„Der Gedanke, dass er meiner überdrüssig sein könnte, nachdem ich ihm solch
ein treuer Begleiter gewesen war, nagte schmerzhaft an mir […] Sie müssen
bedenken, dass ich in Ketten aufgewachsen war und mich nach jeder noch so
kleinen gütigen Geste gesehnt hatte, und sei sie unbeabsichtigt gewesen“,
reflektiert Wash. „Ob dies ein Wendepunkt war? Seit jener schicksalhaften
Nacht in Virginia ist kein Tag vergangen, an dem ich meine Entscheidung
nicht hinterfragt habe.“
In ihrer Beziehung stellt die Arktis definitiv einen Wendepunkt dar. Titch
wird dort zu einem anderen Menschen. Washington sieht sich gezwungen,
alleine weiterzureisen. In Nova Scotia, Kanada, nimmt er jene Tätigkeit
wieder auf, die ihm „ein intensives Gefühl der Freiheit“ verleiht: das
Malen.
Es ist für ihn eine Form der Selbstermächtigung und gibt ihm die
Möglichkeit, die Kontrolle zu erlangen, zumindest über das, was er auf
Papier bringt. Nun lernt er auch Tanna kennen, mit der er eine
Liebesbeziehung eingeht. Sie ist die Erste, die Wash als Person jenseits
seiner Hautfarbe oder seines Status als ehemaligen Sklaven ansieht.
„Washington Black“ ist ein Roman, der von seiner Handlung lebt, also
plot-driven ist. Dennoch nimmt sich Edugyan Zeit für die Entwicklung ihrer
Figuren.
## Ambivalente Figur
Washington findet so immer mehr zu seiner eigenen Stimme. Dies hat er
größtenteils Titch zu verdanken; im Laufe ihrer Bekanntschaft drückt sich
Wash immer elaborierter aus. Doch die Dynamik von Titch und Wash ist
komplex und widersprüchlich. Zwar ist Titch Abolitionist, benutzt zugleich
aber die Arbeit von Sklav*innen, um seinen Wolkenkutter zu bauen.
Tanna, die Titch nur aus Erzählungen kennt, sagt zu Wash, „dass es diesem
Christopher Wilde nie um dich ging. Du warst für ihn Mittel zum Zweck,
keine Person.“ Eine Aussage, die der Widersprüchlichkeit der Figur nicht
gerecht wird: Denn die Beziehung der beiden entwickelt sich noch auf
Barbados von einem Meister-Lehrling-Verhältnis hin zu einem, das fast dem
von Vater und Sohn ähnelt – bis Titch in der Arktis selbst in die Rolle
eines Sohns schlüpft und Washington überflüssig wird.
Das zweite wichtige Thema des Romans ist die Frage, wie Wash mit der Schuld
umgeht, sich selbst befreit, die anderen Sklav:innen aber zurückgelassen
zu haben. „Es gab Zeiten, und ich schäme mich, das zu sagen, in denen ich
vor der Grausamkeit, die sich jenseits unserer Tür abspielte, das Herz
verschloss. Ich hörte einfach auf, sie zu sehen“, heißt es einmal.
Durch seine Flucht ist er frei, und wenige Jahre später, nach der
Abolition, sogar auf legale Weise – doch emotional und psychisch ist es
für ihn schwierig, sich frei und sicher zu fühlen. Seine physische Freiheit
kann er kaum in eine innere wandeln. Erst durch Tanna erkennt er, dass es
möglicherweise nicht ein Ort, sondern die Menschen sind, die ihm das Gefühl
des Ankommens geben können.
## Auf Obamas Leseliste
„Washington Black“ ist Edugyans dritter Roman und nach „Spiel'’s noch
einmal“ (Insel Verlag, 2011) der zweite, der ins Deutsche übersetzt wurde.
Edugyan, die 1978 als Tochter ghanaischer Einwanderern in Calgary geboren
wurde, war mit „Washington Black“ für den Man Booker Prize nominiert,
Barack Obama setzte das Buch auf seine berühmte Leseliste.
Verglichen wurde es einerseits oft mit „Underground Railroad“, andererseits
mit Jules Verne. Während Ersteres nur bedingt zuzutreffen scheint (eine
kurze Episode erzählt von der Underground Railroad in Virginia), ist durch
Washingtons Abenteuergeschichte die Parallele zu Verne deutlicher. Statt
sich ihrem Protagonisten und den schweren Motiven mit düsterem Realismus zu
nähern, wählt Esi Edugyan einen ungewöhnlichen, fast märchenhaften Ton.
Das macht „Washington Black“ einzigartig: die Verhandlung von wichtigen wie
grausamen Themen verquickt die Autorin mit einer leichten Erzählweise und
einem flotten Plot. „Washington Black“ ist anders als manch anderer
historischer Roman nicht darauf ausgelegt, als Metapher für die Gegenwart
gelesen zu werden. Stattdessen bringt er den Leser:innen hierzulande ein
brutales Stück Geschichte näher.
19 Jan 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Isabella Caldart
## TAGS
Literatur
Kanada
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Kolonialismus
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