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# taz.de -- Neuer Roman aus Irland: Der Irrglaube an Beherrschbarkeit
> Notstandsgesetze werden verabschiedet, Irland wird ein Polizeistaat. In
> Paul Lynchs „Prophet Song“ bricht die bürgerliche Gesellschaft zusammen.
Bild: Für „Prophet Song“ gewann Paul Lynch kürzlich den Booker Prize
Es ist ein düsteres Buch. Aber es hat den renommierten britischen Booker
Prize 2023 gewonnen. Der irische Autor Paul Lynch erhielt die mit 50.000
Pfund dotierte Auszeichnung für seinen Roman „Prophet Song“. Es war keine
einstimmige Entscheidung, sagte die [1][kanadische Schriftstellerin Esi
Edugyan], die Vorsitzende der Jury. Man habe lange diskutiert und immer
wieder abgestimmt – sechs Stunden lang. Die Wettbüros behielten am Ende
recht: „Prophet Song“ war ihr Favorit.
Lynch hat einen dystopischen Roman geschrieben. Das Wort stammt aus dem
Griechischen: Dys heißt schlecht, Tópos ist der Ort. Der „schlechte Ort“
ist Dublin. Es beginnt damit, dass zwei Beamte des Garda National Services
Bureau, der neuen irischen Geheimpolizei, an Eilish Stacks Tür klopfen. Sie
wollen ihren Mann Larry sprechen, den stellvertretenden Generalsekretär der
Lehrergewerkschaft.
Eilish Stack, aus deren Blickwinkel die Geschichte erzählt wird, ist eine
freundliche Wissenschaftlerin und will nach ihrem Mutterschutzurlaub an
ihren Arbeitsplatz in einem Biotech-Unternehmen zurückkehren.
Baby Ben ist ein Nachzügler, die anderen Kinder sind bereits 12, 14 und 17
Jahre alt. Die Stacks wohnen in einem Vorort von Dublin, ihre Ehe ist
intakt, sie haben ein gutes Auskommen. Eilish kümmert sich nebenbei um
ihren Vater Simon, der in der Nachbarschaft wohnt und erste Anzeichen von
Demenz zeigt.
Lynch gibt am Anfang einen kurzen Hinweis auf eine Pandemie, aber er geht
nicht näher darauf ein. Damit steckt er lediglich den Rahmen ab für die
folgende Katastrophe. In Irland ist eine „National Alliance Party“ an die
Macht gekommen und hat eine Reihe von Notstandsgesetzen verabschiedet, die
der Polizei und Justiz weitreichende Machtbefugnisse einräumen. Larry nimmt
gegen den Willen seiner Frau an einer Demonstration gegen die Regierung
teil. Damit beginnt das Unheil für die Stacks. Larry verschwindet, ebenso
wie Hunderte andere Zivilisten.
Eilish will ihre Kinder mit Verharmlosungen und Lügen vor dem Horror
abschirmen. Sie klammert sich an den Glauben, dass die Situation
beherrschbar sei, dass man der Brutalität des Polizeistaats irgendwie
entrinnen könne. Die Ratschläge, sie möge das Land so schnell wie möglich
verlassen, schlägt sie in den Wind. „Ich wünschte, du würdest auf mich
hören“, sagt Eilishs Schwester Áine, die in Kanada lebt. „Die Geschichte
ist eine stille Aufzeichnung von Menschen, die nicht wussten, wann sie
gehen sollten.“
Lynch vermeidet Erläuterungen, wofür die nationalistische Partei steht und
was ihre Ziele sind, denn der Roman könnte überall spielen. „Lynchs
dystopisches Irland reflektiert die Realität der Länder, die vom Krieg
zerrissen sind, wo Flüchtende sich ins Meer begeben, um der Verfolgung zu
entgehen“, schrieb Aimée Walsh im Observer. „Die Gewalt in Palästina, in
der Ukraine und in Syrien klingt in dem Buch an.“
„Prophet Song“ soll aber keine Warnung sein, sagt Lynch: „Ich habe das Bu…
geschrieben, um zu erklären, dass diese Dinge immerfort und in allen
Zeitaltern vorkommen.“ Vor Kurzem gab es in Dublin eine Gewaltorgie, die
von Rechtsextremen angezettelt worden war, nachdem ein aus Algerien
stammender Ire Grundschulkinder mit einem Messer verletzt hatte. Lynch
sagt, er sei zwar über die Krawalle erstaunt gewesen, aber diese Art von
Energie sei immer unter der Oberfläche vorhanden.
Lynch wurde 1977 in Limerick geboren und wuchs in der abgelegenen
nordwestirischen Grafschaft Donegal auf, wo er sich langweilte und viel
las. Sobald er alt genug war, zog er nach Dublin. Von 2007 bis 2011 war er
Filmkritiker der irischen Sonntagszeitung Sunday Tribune. Voriges Jahr
wurde bei ihm Nierenkrebs diagnostiziert, aber nach einer Chemotherapie gab
es Entwarnung. „Prophet Song“ ist sein fünfter Roman. Es ist das sechste
Mal, dass der seit 1968 vergebene Booker Prize nach Irland geht.
## Zeitgenössische Geschichte über Aufstieg des Faschismus
Nach der Preisverleihung sagte Lynch: „Es war nicht einfach, dieses Buch zu
schreiben.“ Es ist anfangs auch nicht einfach, dieses Buch zu lesen. Es
gibt zwar Kapitel, aber keine Absätze. Die Dialoge sind nicht durch
Anführungszeichen gekennzeichnet, man muss sich konzentrieren, um zwischen
Gedanken und Dialogen unterscheiden zu können: Gedanken sind nämlich ebenso
gefährlich wie Worte.
Die irische Apokalypse nimmt ihren Lauf, die bürgerliche Gesellschaft
bricht zusammen, die Stadt ist in regierungstreue und regierungsfeindliche
Viertel gespalten. Es erschreckt, dass es vorstellbar ist. Obwohl Lynch das
Buch bereits vor drei Jahren begonnen hat, könnte man meinen, dass es von
den Ereignissen in jüngster Zeit inspiriert ist.
„Vom ersten Anklopfen an Eilish Stacks Tür vertreibt uns das Buch aus
unserer Bequemlichkeit, während wir der erschreckenden Notlage einer Frau
folgen, die ihre Familie in einem Irland zu schützen versucht, das in den
Totalitarismus abrutscht“, sagte Edugyan
Und Ron Charles schrieb in der Washington Post: „Wäre das Buch ein
Horror-Roman, wäre es nicht halb so furchterregend. Doch diese
zeitgenössische Geschichte über den Aufstieg des [2][Faschismus] ist so
plausibel, dass man nicht umhinkann, von einer Panik erfasst zu werden.“
3 Jan 2024
## LINKS
[1] /Esi-Edugyans-Roman-Washington-Black/!5651734
[2] /Ziviler-Widerstand-in-Italien/!5974690
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
## TAGS
Buch
Roman
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Irland
Dystopie
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