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# taz.de -- Debütroman über das Leben in Nordirland: Ein mattes Leuchten
> Konfessionen, Klassen, Bürgerkrieg, Haarfestiger und Gin. Die Autorin
> Louise Kennedy erzählt vom prekären Alltag im Nordirland der siebziger
> Jahre.
Bild: Alltag an einer Straßensperre. Belfast, 1970
„Troubles“ (Wirren) werden die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen
in Nordirland zwischen pro-irischen Katholiken und unionistischen
(pro-britischen) Protestanten genannt. Die begriffliche Unbestimmtheit
täuscht, zwischen 1969 und 1998 war es ein heißer Konflikt, mit
terroristischer Brutalität geführt, vielen Toten auf beiden Seiten und der
von den Katholiken als Besatzungsmacht wahrgenommenen britischen Armee
dazwischen.
Seither hat das Karfreitagsabkommen für dauerhafte Waffenruhe und die
allmähliche Abkühlung gesorgt, seit diesem Jahr wird Nordirland sogar
mehrheitlich von der katholischen Sinn Fein regiert. [1][Der Brexit hat die
Lage] in Nordirland erneut verkompliziert, und der Konflikt schwelt auf
kleiner Flamme weiter.
Andenken an die Jahrzehnte des Blutvergießens sind von der Geschichte
ohnehin in den Schwitzkasten genommen worden: herabwürdigende Schimpfworte
wie Taigs (für Katholiken) und Prods (für Protestanten) und Deutungskämpfe
um Hoheitsnischen weisen zurück bis zu den Kriegen der Iren gegen die
Engländer und Schotten im 17. Jahrhundert.
Der lange Atem der Geschichte weht auch durch Louise Kennedys Roman
„Übertretung“ (Originaltitel „Trespasses“). Eine Klammer bettet die im…
1975 angesiedelte Handlung in die Gegenwart ein, zeigt, was sich seit
Gewalteruptionen wie dem „Bloody Sunday“ zum Guten verändert hat und was an
Böswilligem bis heute überdauert.
Erzählt wird der Alltag der jungen Lehrerin Cushla Lavery, die in der Bar
ihrer katholischen Eltern in einem protestantisch geprägten Ort nahe
Belfast aushilft. Der Vater tot, die Mutter Alkoholikerin, der Bruder
empathielos, dementsprechend freudlos gestaltet sich der Freiraum der
Mittzwanzigerin.
## Niemand ist hier sicher
Am Tresen und in der Schule wird die junge Frau Zeugin der Verhärtungen in
der nordirischen Gesellschaft. Polizisten mit nervösen Gesichtszuckungen
versuchen von ihrer Arbeit bei einem Bier Abstand zu gewinnen. Die
Nachrichten aus dem nonstop laufenden Fernseher zählen fast täglich
Bombenattentate und Fememorde auf. Niemand ist vor dieser Gewalt sicher.
Kennedys Sound bleibt ruhig, fast sachlich, selbst wenn sie laut überlegt,
was Menschen in ihrer Frustration anstachelt: „Alkohol oder Wut“.
Schüler:innen werden mittraumatisiert von den Verletzungen, die ihre
Eltern davongetragen haben. Wer im falschen Viertel wohnt, wird zum Opfer
von Feindseligkeiten und weggemobbt.
„Hier geht es nicht darum, was man tut. Es geht darum, was man ist“, heißt
es einmal. Wobei der Plot nicht nur die polarisierte Gesellschaft
porträtiert, sondern auch ihre Klassengegensätze herausarbeitet. Reiche
besitzen „das Selbstvertrauen, Fehler zu machen und sich Dummheiten leisten
zu können“, schreibt Kennedy.
Widersprüche zeigen sich auch in der verzwickten Liebesgeschichte zwischen
der katholischen Protagonistin und dem doppelt so alten Protestanten
Michael Agnew, einem verheirateten Anwalt aus gutem Hause. Cushla Lavery
soll Agnew und seinem Freundeskreis Gälisch beibringen. Agnew verteidigt
Katholiken, weil er das damals geltende Justizsystem, die sogenannte
Diplock Courts, für Unrecht hält. Die eigenen Freunde schütteln über seinen
blinden Eifer den Kopf, bei Unionisten und Katholiken ist er verhasst.
## Bloß keine Irlandklischees
Louise Kennedy gelingt es, mit lakonischen Beschreibungen den Geist der
1970er aus der Flasche weichen zu lassen. Zum Vorschein kommt dabei fast
nebenbei die Misogynie der Männerwelt, ebenso wie die einsetzende
Emanzipation der Frauen. Katholische Geistliche, die, statt Seelsorge zu
machen, die Prügelstrafe anwenden, instinktlose britische Polizisten, die
unbeholfene Disco-Nachmittage an Schulen ausrichten.
Konfessionsprosa schreibt Kennedy keine, irgendwo zwischen trotziger
Lebenslust und deprimierender Totenklage, entfernt verwandt mit dem spröden
Erzählsound einer Iris Murdoch, bar jedes ethnisierenden irischen
Frühlingskitsches liegt ihr Stil. Wenn von Haarfestiger und Gin die Rede
ist, von grauen Pfützen vor einem [2][Fish&Chips-Imbiss,] großen
Blumenkohlwolken am Himmel und vergilbten Tapeten in einem Hotel in Dublin,
dann leuchtet die irische Insel der 1970er eher matt, aber die Frotzeleien
der Menschen in Strickjacken mit Hahnentrittmuster und Musselinblusen
werden trotzdem anschaulich, genau wie der blinde Hass und das Misstrauen
untereinander. Das Nagen der Gewalt, Angst, Ungewissheit und der Trotz, die
diesen prekären Alltag bestimmen.
Louise Kennedy ist als Schriftstellerin eine Spätberufene, die 56-Jährige
ist gelernte Köchin, war Inhaberin eines Restaurants (das insolvent ging)
und lebte über dreißig Jahre im Ausland (unter anderem in Beirut), bevor
sie nach Irland zurückkehrte, wohin sie in der Jugend mit ihren Eltern aus
der Nähe von Belfast migrierte. Zum Schreiben kam sie durch einen
Creative-Writing-Kurs, bei dem ihre Talente als Autorin gefördert wurden.
Nach einem Band mit Kurzgeschichten („The End of the World is a Cul de
Sac“), nach Erscheinen 2021 preisgekrönt, ist „Übertretung“ ihr Debütr…
Von ihr wird hoffentlich noch zu hören sein.
10 Sep 2023
## LINKS
[1] /Nordirland-nach-dem-Brexit/!5923944
[2] /Die-Wahrheit/!5738734
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Literatur
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