# taz.de -- „Kleine Kratzer“ von Jane Campbell: Während sie die ergraute K… | |
> Mit 80 Jahren debütierte die Britin Jane Campbell mit beeindruckenden | |
> Kurzgeschichten. „Kleine Kratzer“ durchweht mal Melancholie, mal leiser | |
> Sarkasmus. | |
Bild: In Jane Campbells Erzählungen sind nicht bloß die Katzen grau, sondern … | |
Sie hoffe, so Jane Campbell in einem der Interviews anlässlich ihres | |
Debüts, dass ihre Figuren nicht zu übersehen seien. Aus ihrem Munde kommt | |
diesem Satz eine besondere Bedeutung zu, da ihre Protagonistinnen in der | |
Literatur bislang so gut wie unsichtbar blieben: Die Frauen in ihren | |
Erzählungen sind zwischen siebzig und Mitte achtzig. Alte Frauen aber | |
kommen jenseits von Klischees, wie etwa der „komischen Alten“ oder der | |
„weisen Alten“, literarisch nicht vor. Man darf sagen, dass Jane Campbell | |
das geändert hat. | |
Als ihr Buch im vorigen Jahr in England erschien, war die britische | |
Psychoanalytikerin selbst bereits achtzig Jahre alt. 2017 hatte sie eine | |
Kurzgeschichte an die London Review of Books geschickt. Diese | |
veröffentlichte die Erzählung, und die Herausgeberin motivierte die | |
Autorin, mehr zu schreiben. Glücklicherweise kam Campbell dem nach, | |
entstanden sind schließlich 13 Storys, in denen die Lesenden 13 ganz | |
verschiedenen Frauen begegnen. | |
So der Ich-Erzählerin in der Geschichte „Katzenbuckel“, die bei Sohn und | |
Schwiegertochter lebt. Während sie die ebenfalls ergraute Katze bürstet, | |
denkt sie über ihr Alter nach. Sehr klar. | |
## Prozess der Enteignung | |
Campbell lässt sie formulieren, was bei aller Unterschiedlichkeit ihrer | |
Charaktere doch sie alle betrifft: „Die Katze und ich lernen mehr und mehr | |
über den Prozess der Enteignung. Das Altern wird oft als eine Phase der | |
Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, | |
aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, | |
Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen | |
hat, wird einem nach und nach genommen.“ | |
Der Mangel an Respekt äußert sich oft in Unterschätzung. Während sie sich | |
lebhaft an frühere Liebhaber und ihre Autorität im Beruf erinnert, bleibt | |
in den Augen des Sohnes und „aller Welt“ nichts als das „bezaubernde Bild | |
der Unschuld“, das eine alte Frau mit Katze verkörpere. Ein melancholischer | |
Ton durchweht die Erzählung, unterlegt von einem leisen Sarkasmus. | |
Schließlich aber fügt sich die Erzählerin. Das tun längst nicht alle | |
Figuren. | |
In „Schopenhauer und ich“ benutzt die Ich-Erzählerin einen Pflegeroboter, | |
um einen absurden Racheplan an den Betreibern des „Abladeplatz(es) für | |
Alte“ durchzuziehen. Sie ist wütend und sie ist schlau. Weniger | |
melancholisch als vielmehr zwischen bitter-komischer Ironie und echter | |
Verletzung fein changierend ist hier der Ton. | |
Die Vielgestaltigkeit der Stimmen, die Campbell für ihre Figuren kreiert, | |
ist beeindruckend. In [1][Bettina Abarbanells feinsinniger Übertragung | |
ins Deutsche] wird tatsächlich für jede ein eigener Ton „hörbar“. | |
## Ein Geschenk an Individualität | |
Themen wie Einsamkeit, Verlust, Selbstbestimmung, Erinnerung und nicht | |
zuletzt Körper und Begehren nimmt die Autorin mehrfach auf, variiert sie, | |
setzt unterschiedliche Schwerpunkte und Bezüge. In jeder Erzählung schwingt | |
eine andere Grundstimmung mit. So schenkt Campbell jeder ihrer | |
Frauenfiguren literarisch jene Individualität, die sie älteren und alten | |
Frauen in der Realität oft verwehrt sieht. | |
Und erzählt Unerhörtes. „Die Lust eines alten Mannes ist abstoßend, aber | |
schlimmer noch ist die Lust einer alten Frau. Das weiß jeder. Susan wusste | |
es allemal.“ So beginnt die Erzählung „Susan und Miffy“, in der sich die | |
über 80-jährige Susan in ihre knapp 30-jährige Pflegerin verliebt. Hier | |
kennt die allwissende Erzählstimme alle Regungen Susans, die nur stockend | |
und mit Scham erkennt, was sie fühlt. | |
Hier setzt Campbell ihre klare, unaufgeregte Sprache für eine feinfühlige | |
Annäherung an eine späte Überwältigung ein. Nimmt kleine Gesten auf, | |
gesenkte und geworfene Blicke, sinnliche Details, flicht meist kurze, | |
lebendige Dialoge ein, sodass beide Figuren den Leser*innen so plastisch | |
wie glaubhaft vor Augen stehen. Und in Erinnerung bleiben. | |
Während Campbell in Susans Geschichte von einem späten Kipppunkt im Leben | |
erzählt, sind es in anderen Erzählungen frühere Begegnungen, die ihre | |
Wirkmacht über viele Jahre, ja Jahrzehnte entfalten. | |
## Die absolute Entzauberung | |
In „Lamia“ kehrt Linda nach über dreißig Jahren zurück an einen Ort, wo … | |
der sie prägenden Liebe begegnete. An den Victoria-Fällen trifft sie wieder | |
auf Malik. Doch so nah sie auch beieinandersitzen, so tief ist das | |
Unverständnis zwischen ihnen, das die Autorin erzählerisch aufklaffen | |
lässt. Die Entzauberung ist absolut. Und doch: „Nicht, was sie besessen | |
hatte, sondern was sie losgelassen hatte, brachte ihr den Frieden.“ | |
Campbells Frauen sind so unterschiedlich, wie es auch jüngere Menschen | |
sind. Sehnsüchtig, hoffend, verzweifelt, wütend, auf ihre Autonomie | |
bedacht, sich Begegnungen wünschend. Ihr Innenleben ist reich und voller | |
lebendiger Erinnerungen. Manche sind wehrhaft, andere Opfer | |
missbräuchlicher Beziehungen. Eine wahrt ihre Selbstbestimmung, indem sie | |
ihr Leben selbst beendet. | |
Jane Campbells schonungsloser Blick verbindet sich mit Feinfühligkeit; die | |
tiefe Emotionalität mit grimmigem Witz, feiner Ironie. Ihr großartiges | |
Debüt schenkt der Literatur Frauenfiguren, die bislang fehlten. | |
18 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
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